Kriminalgeschichte
Frauenmord beim „Kalten Gang“
Ende Juni 1950 erstach ein Unbekannter in der Nähe von Himberg eine junge Frau und verletzte eine andere mit Messerstichen. Trotz aufwendiger Fahndung konnte der Mörder nicht gefasst werden.
Die Erntehelferinnen Antonia „Toni“ Panholzer und Elfriede „Elli“ Kastner gingen am Freitag, 30. Juni 1950, nach der Arbeit zum „Kalten Gang“ in Gutenhof bei Himberg, um zu baden. Auf dem Weg überholte sie ein Radfahrer, der sich später neben die jungen Frauen setzte und sie belästigte. „Die Frauen haben Angst bekommen und wollten weglaufen“, erzählt Hans Beisteiner vom Gemeindearchiv Himberg. „Der Mann hat dann Elli Kastner niedergestochen und auch Toni Panholzer mit dem Messer am Hals verletzt.“ Durch die Schreie der Frauen aufmerksam geworden, liefen Erntehelfer zum Tatort. Sie fanden Elli Kastner blutüberströmt am Boden liegen. Die Frau war verblutet. Die 21-jährige Toni Panholzer wurde schwer verletzt in ein Wiener Krankenhaus gebracht und operiert.
Passanten sahen in der Nähe des Tatorts einen jungen Mann mit pockenartigen Narben, bekleidet mit einem kurzen Hemd und einer Lederhose mit breiten Hosenträgern. Er schob auf einem Feldweg ein blaulackiertes Fahrrad, lief zur Straße und fuhr Richtung Velm. Kurze Zeit später wurde der Mann abermals gesehen, als er Badende beobachtete. Er soll gerufen haben, er habe „eine Frau umgebracht“. Die Badegäste hielten ihn für betrunken und reagierten nicht entsprechend.
Himberg gehörte bis 1954 zu „Groß-Wien“; deshalb war das Wiener Sicherheitsbüro bei den Ermittlungen federführend.
Die Großfahndung verlief erfolglos. Mit Lautsprecherwägen wurden die Bewohner zur Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes ersucht. Der Geflüchtete war in den Tagen davor mehrmals in der Umgebung gesehen worden und hatte Frauen und Kinder sexuell belästigt. Vermutlich der gleiche Täter hatte im Oktober 1949 auf der Straße zwischen Biedermannsdorf und Achau die 29-jährige Köchin Maria Schmiedl aus Achau mit einem Messer in den Rücken gestochen.
In den Tagen nach der Bluttat von Himberg wurde ein Mann, auf den die Beschreibung passte, in Schwechat, beim Lainzer Tiergarten und in der Nähe von St. Pölten gesehen. Auf einer Straße bei St. Pölten überfiel er eine Frau und wollte mit einem Messer auf sie einstechen. Als sich ein Motorradfahrer näherte, flüchtete der Täter.
Personsbeschreibung und Phantombild.
Wochenlang vernahmen die Ermittler unzählige Verdächtige. Mehrmals glaubten die Ermittler, den Mörder gefunden zu haben. Sie nahmen unter anderen einen Mann fest, der bei Himberg eine badende Frau belästigt und erschreckt hatte. Es handelte sich um den 25-jährigen Felix B. aus Wien-Brigittenau. Sicherheitswachebeamte und Kriminalbeamte der Wiener Polizei befragten innerhalb von zwei Wochen Bewohner aller Wohnhäuser in Wien-Brigittenau nach Hinweisen zum Mörder. Die Großaktion blieb erfolglos. Felix B. gestand beim Verhör 30 Sexualdelikte an Frauen und Kindern, nicht aber die Tat in Himberg. Panholzer schloss ihn bei der Gegenüberstellung als den Mörder ihrer Freundin aus.
Aufgrund weiterer Zeugenaussagen veröffentlichte die Polizei eine neuerliche Personsbeschreibung und ein Phantombild. Demnach war der Gesuchte etwa 25 Jahre alt und ungefähr 175 Zentimeter groß, hatte dunkelblondes, zurückgekämmtes Haar, ein längliches Gesicht mit blatternartigen Narben auf dem Kinn, einen gold- oder messingfarbenen Zahn im Oberkiefer und einen stark gebräunten Körper. Die Kriminalisten vermuteten, dass der Mann aus Niederösterreich oder Wien stammen könnte, möglicherweise aus dem Raum Himberg, da er hier gute Ortskenntnisse hatte. Die Bundespolizeidirektion Wien setzte eine Belohnung von 5.000 Schilling (heutiger Wert: 4.900 Euro) für zielführende Hinweise auf den „Hitzemörder von Himberg“ aus.
Etwa 200 Männer gerieten in Verdacht. Sie wurden einvernommen und teilweise gegenübergestellt, unter ihnen ein Ausbrecher aus der Justizanstalt Stein an der Donau. Bei keinem erhärtete sich der Verdacht.
„Trittbrettfahrer“.
Im Sommer 1950 vergewaltigte ein Mann in Wien-Dornbach ein Mädchen und in der Nähe von Himberg ein weiteres. Der Gewalttäter sah dem Phantom von Himberg ähnlich und sagte seinen Opfern, er sei der „Mörder von Himberg“. Beide Mädchen machten aus Scham und Angst zunächst keine Anzeige. Bei der Vergewaltigung in den Auen von Himberg zerbrach das Glas der Armbanduhr des Täters. Die Ermittler machten den Uhrmacher ausfindig, der das Uhrglas erneuert hatte. Der Besitzer der Uhr hatte dem Uhrmacher seinen Namen genannt. Es handelte sich um den 26-jährigen Karl F. aus Wien-Meidling. Er wurde verhaftet und gestand die Vergewaltigung der beiden Frauen. Mit dem Himberger Mord hatte er aber nichts zu tun. Er gab an, sich als „Himberger Mörder“ ausgegeben zu haben, um seine Opfer einzuschüchtern und leichter vergewaltigen zu können.
Serienvergewaltiger.
Ende August 1950 überfiel ein junger Mann mit Pockennarben auf dem Kinn in der Nähe des Südwest-Friedhofs in Wien-Atzgersdorf nacheinander zwei Frauen, um sie zu vergewaltigen. Die Polizisten konnten den Täter ausforschen und festnehmen. Es handelte sich um den 21-jährigen Karl N. Er hatte ein blaues Fahrrad. Der Verdächtige war wegen versuchter Vergewaltigung vorbestraft und gestand die beiden Übergriffe in Wien, nicht aber den Mord in Himberg. Für diese Tat hatte er ein Alibi und Antonia Panholzer erklärte bei der Gegenüberstellung, dass der Festgenommene nicht der Täter vom „Kalten Gang“ sei.
„Frauenwürger von der Josefstadt“.
Der Eisenbahner Ludwig A., in Zeitungen als der „Frauenwürger von der Josefstadt“ bezeichnet, galt ebenfalls als verdächtig. Er wurde beschuldigt, unzählige Frauen sexuell belästigt zu haben. Eine Frau hatte nach einer Auseinandersetzung gegen ihn eine Anzeige wegen Körperverletzung erstattet und behauptet, er hätte sie zu erwürgen versucht. Nach acht Wochen Untersuchungshaft wurde Ludwig A. als unschuldig aus der Haft entlassen. Etwa 40 Frauen wurden dem Festgenommenen gegenübergestellt. Alle Opfer gaben an, dass Angel nicht als Täter in Frage komme. Auch die Täterbeschreibung passte nicht auf den Eisenbahner. Es stellte sich heraus, dass die Frau, die ihn angezeigt hatte, eine gute Bekannte des Verdächtigen war und über die tatsächlichen Umstände der Auseinandersetzung gelogen hatte.
Selbstbezichtiger.
Im Oktober 1955 erschien der 28-jährige Kaufmann Johann B. aus Langenlois bei der Polizei und behauptete, der langgesuchte Mörder vom „Kalten Gang“ zu sein. Antonia Panholzer sagte bei der Gegenüberstellung im Sicherheitsbüro, der Mann sei keinesfalls der Täter. Johann B. gab zu, er habe mit seiner Selbstbezichtigung ins Gefängnis gehen wollen, um vor seiner „schwierigen Lebensgefährtin" und den Kindern „endlich seine Ruhe“ zu haben. Weil er kleinere echte Straftaten gestand, hatte er zumindest einige Zeit Ruhe vor seiner Familie.
Gedenkkreuz.
An der Stelle in Himberg, an der die 20-jährige Elli Kastner erstochen wurde, befindet sich heute ein Golfplatz. Dort erinnert ein schlichtes Steinkreuz an den ungesühnten Mord.
Werner Sabitzer
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2023
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