Gewaltschutz
Kooperation im Opferschutz
Bei Hochrisikofällen setzt das Opferschutzzentrum des Landeskriminalamts Wien auf Zusammenarbeit mit dem Gewaltschutzzentrum Wien und dem Verein Neustart.
In den ersten sechs Monaten des Probebetriebs im Opferschutzzentrum haben wir gelernt, dass eine optimale Opfer- und Gefährderbetreuung vor allem durch die gute Kooperation mit dem Gewaltschutzzentrum Wien und dem Verein Neustart Wien möglich ist“, sagt die Psychologin Nina Lepuschitz, Leiterin des Opferschutzzentrums des Landeskriminalamts (LKA) Wien. „Wir haben uns in dieser kurzen Zeit als vertrauenswürdige Koordinations- und Schnittstelle bei Hochrisikofällen und Gefährdungseinschätzungen etabliert.“
Die Idee, ein polizeiliches Zentrum für Opferschutz einzurichten, entstand im Zuge der Einführung des „GiP-Supports“ („Gewalt in der Privatsphäre“) der Landespolizeidirektion Wien im Juli 2021. „Ruft ein Kollege, der wegen Gewalt in der Privatsphäre ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen hat, beim Support an, wird das Risiko mit einem Gefährdungseinschätzungstool ermittelt. Je nachdem, ob ein niedriges, ein erhöhtes Risiko oder ein Hochrisiko vorliegt, ergeben sich Zuständigkeiten im Hinblick auf die Aktenbearbeitung in Zusammenhang mit der Opferschutzarbeit“, erklärt die stellvertretende Leiterin des Opferschutzzentrums Margit Kassan.
Hochrisikofälle.
Lepuschitz und Kassan, die bereits im LKA Wien mit Opferschutz befasst waren, erarbeiteten in einer Projektgruppe ein Konzept für ein Opferschutzzentrum. Dieses sollte in Hochrisikofällen Risikoanalysen erstellen, die mehr Faktoren berücksichtigen als das vom GiP-Support eingesetzte Tool. Auch eine längerfristige Betreuung von Gewaltbetroffenen war vorgesehen. Das Konzept wurde bewilligt, das Opferschutzzentrum nahm im Oktober 2023 den Probebetrieb auf.
Von Oktober 2023 bis Ende März 2024 hatte das Opferschutzzentrum 364 Akten zur Bearbeitung. Zu jedem Akt wurden ein Opferkontaktgespräch und eine präventive Rechtsaufklärung des Gefährders durchgeführt, um im Anschluss daran eine individuelle Risikokommunikation anzubieten. Es fanden zehn polizeiinterne und zehn externe Vernetzungstreffen mit Kooperationspartnern statt. Vertreter des Opferschutzzentrums nahmen an elf sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen teil.
Alle Mitarbeiter des Opferschutzzentrums sind Kriminalbeamte mit langjähriger Erfahrung in der Gewaltprävention. Sie haben eine zweitägige Zusatzausbildung in Risikoanalyse und Gefährdungseinschätzung absolviert, vor allem zu psychischen Erkrankungen in Zusammenhang mit delinquentem Verhalten. „Im GiP-Support ist uns aufgefallen, dass die Anzahl an psychisch kranken Tätern gestiegen ist, daher ist die Verbindung von Polizei und Psychologie so wichtig. Das Wissen aus der Schulung hilft in der Kommunikation mit dem Gefährder. Ist er kognitiv überhaupt in der Lage zu verstehen, dass er sich dem Opfer nicht nähern darf?“, sagt Lepuschitz. Zur Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist eine jährliche Schulung mit externen Vortragenden geplant, z. B. mit gerichtlich beeideten Psychiatern oder klinischen Psychologen.
In der Ausbildung wird vermittelt, wie bei einem Hochrisikofall vorzugehen ist – wobei es den typischen Fall von Gewalt in der Privatsphäre nicht gibt, wie Lepuschitz betont. Nicht immer handelt es sich um Partnergewalt, mitunter ist der Täter das eigene Kind, häufig in Zusammenhang mit einer durch den Missbrauch von Alkohol oder illegalen Drogen ausgelösten psychischen Störung. Bei der im Opferschutzzentrum durchgeführten individualspezifischen Risikoanalyse wird unter anderem erhoben, ob die Tat unter Substanzeinfluss begangen worden ist, ob Eifersucht und kontrollierendes Verhalten oder andere Faktoren eine Rolle gespielt haben und wie sich die Beziehungsdynamik entwickelt hat.
Opfer- und Täterarbeit.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Opferschutzzentrums bereiten sich auf die Gespräche mit Gewaltbetroffenen und Gefährdern durch Aktenstudium und mit den Informationen aus der Risikoanalyse vor. „Das Opfer muss nicht alles noch einmal erzählen, wir fragen gezielt bestimmte Parameter ab. Wir versuchen, die Angst des Opfers zu minimieren, es zu sensibilisieren, Tipps zu geben, was es in gefährlichen Situationen tun kann“, beschreibt Kassan das Vorgehen bei Gesprächen mit Gewaltbetroffenen.
Im Kontakt mit Gefährdern bemüht sich das Team des Opferschutzzentrums, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die Teammitglieder erklären, was ein Betretungs- und Annäherungsverbot bedeutet und welche Konsequenzen es gibt, wenn man dagegen verstößt. Darüber hinaus geht es darum, den Gefährder dabei zu unterstützen, gewaltfreie Lösungen zu finden. So könnte bei einem Alkoholabhängigen, der gewalttätig wird, wenn er zu viel getrunken hat, eine Entzugstherapie hilfreich sein. Oft sind die Gefährder froh, dass ihnen jemand zuhört, und sie wenden sich bei Problemen – etwa im Zuge einer Scheidung – an das Opferschutzzentrum.
In jedem Fall, mit dem das Opferschutzzentrum betraut ist, wird zumindest für drei Monate ein Monitoring durchgeführt. Falls nötig, kann die Betreuung auch ein halbes Jahr oder in Einzelfällen länger dauern. Wenn sich eine betreute Person einige Zeit lang nicht meldet, ruft sie ein Mitarbeiter des Opferschutzzentrums an, fragt, wie es ihr geht und ob sie Hilfe braucht.
Gewaltschutzzentrum.
Der überwiegende Teil der vom Opferschutzzentrum bearbeiteten Fälle kommt vom GiP-Support, der sämtliche Hochrisikofälle an das Opferschutzzentrum übermittelt, aber auch das Gewaltschutzzentrum Wien meldet Hochrisikofälle. „Wir werden von der Polizei über alle Betretungs- und Annäherungsverbote informiert, deren räumlicher Schutzbereich in Wien liegt, nicht nur in Hochrisikofällen. Die Information umfasst die Kontaktdaten der gefährdeten Person und eine Darstellung, wie der Einsatz abgelaufen ist und was zu der Entscheidung geführt hat, dass ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen worden ist“, erklärt Nicole Krejci, Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Wien.
Die Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums kontaktieren die gefährdeten Personen. Das hilft, die Hürde, sich Unterstützung zu holen, zu überwinden, die durch das unmittelbare Naheverhältnis zum Gefährder besteht. „Wird ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen, geht das für die Betroffenen meist sehr schnell, sie verstehen oft gar nicht, was passiert ist. Wir erklären, was der Gefährder tun darf und was nicht, welche Möglichkeiten es gibt – z. B. eine einstweilige Verfügung, um den Schutz zu verlängern“, sagt Krejci.
In rund 95 Prozent aller Fälle kommt ein Kontakt zwischen der Gewaltbetroffenen (meist handelt es sich um Frauen) und einer Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums zustande. Diese führt mit dem Instrument „Danger-Assessment“ von Jacquelyn Campbell eine Gefährdungseinschätzung durch. In seltenen Fällen unterscheidet sich die Einschätzung von jener durch die Polizei – etwa, wenn die Betroffene im Gewaltschutzzentrum von einem Vorfall berichtet, der nicht polizeilich bekannt ist, aber aufgrund seiner Schwere nahelegt, dass vom Gefährder ein hohes Risiko ausgeht.
Die Einstufung als Hochrisiko durch die fallführende Mitarbeiterin wird von der Teamleiterin überprüft. Bestätigt diese die Gefährdungseinschätzung, meldet das Gewaltschutzzentrum den Fall sofort an das Opferschutzzentrum, die zuständige Polizeiinspektion und die Staatsanwaltschaft. Damit soll sichergestellt werden, dass so schnell wie möglich die nötigen Schritte zum Schutz der Gewaltbetroffenen eingeleitet werden, etwa eine Intensivierung der Streifentätigkeit.
Neustart.
Auch der Verein Neustart wird von der Polizei über Betretungs- und Annäherungsverbote in Wien informiert. „Seit 1. September 2021 sind wir laut Sicherheitspolizeigesetz verpflichtet, eine sechsstündige Gewaltpräventionsberatung für Personen anzubieten, gegen die ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen worden ist. Diese Personen müssen sich bei uns melden“, erläutert Nikolaus Tsekas, Leiter des Vereins Neustart Wien. Rund 70 Prozent der Gefährder kontaktieren den Verein Neustart innerhalb der vorgegebenen fünf Tage ab Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbots. Die übrigen versucht der Verein mit einer Ladung zu erreichen.
Im Gespräch begegnen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Neustart den Gefährdern mit persönlicher Wertschätzung, ohne ihre Taten zu entschuldigen. Sie lernen die Person des Gefährders näher kennen, was dazu beiträgt, das von ihm ausgehende Risiko besser einschätzen zu können. „Gewaltausübung ist ein dynamischer Prozess, der sich verändern kann – und damit ändert sich auch die Gefährdungseinschätzung“, erklärt Tsekas. Es besteht die Möglichkeit einer Entspannung, manchmal geht es aber in die entgegengesetzte Richtung, sodass sich ein niedriges oder erhöhtes Risiko zu einem Hochrisiko entwickelt. Ist das der Fall, verständigt der Verein Neustart unverzüglich das Opferschutzzentrum. „Nina Lepuschitz und ich wissen, dass wir einander jederzeit am Handy anrufen können. Geschwindigkeit spielt eine Rolle, wenn Gewalttaten verhindert werden sollen“, sagt Tsekas. Er war schon vor der Gründung des Opferschutzzentrums mit den Präventionsbeamten des LKA Wien in Kontakt, nahm an MARAC-Fallkonferenzen und Arbeitsgruppen teil.
Zusammenarbeit.
Bestimmte Hochrisikofälle werden in einer sicherheitspolizeilichen Fallkonferenz (SFK) behandelt, die in Wien primär der jeweils zuständige Sicherheitshauptreferent (SHR) einberuft. Die Kooperation zwischen dem Opferschutzzentrum und dem SHR ist enorm wichtig, da von diesem die meisten sicherheitsbehördlichen Maßnahmen zum Schutz des Opfers angeordnet werden. Zusätzlich gibt es in jedem Bundesland ein SFK-Team, wobei das Wiener Team von einer Vertreterin des Büros für Zentrale Koordination geleitet wird und sich aus Vertretern des Opferschutzzentrums, des Gewaltschutzzentrums Wien und des Vereins Neustart Wien zusammensetzt. Die Mitglieder des SFK-Teams besprechen spezielle Hochrisikofälle gesondert, analysieren sie und tragen sie im Bedarfsfall an den jeweiligen Sicherheitshauptreferenten heran, um eine SFK abzuhalten.
Die Kooperation aller relevanter Akteure hat sich bereits eingespielt und als effizient erwiesen, so Lepuschitz: „In einigen Fällen wurde uns bewusst, dass eine optimale Betreuung von Opfer und Gefährder nur durch eine vertrauensvolle und verlässliche Zusammenarbeit mit dem Gewaltschutzzentrum Wien und dem Verein Neustart Wien möglich war, weil wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Dieser Strang bildet schlussendlich die Gewährleistung der Sicherheit des Opfers und der Verhinderung zukünftiger schwerer Gewalttaten.“
Rosemarie Pexa
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2024
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