Deutschland
Acht Morde in der Direktorenvilla
Vor 100 Jahren wurden in einer Villa in Hessen acht Leichen entdeckt. Es handelte sich um einen der erschreckendsten und rätselhaftesten Fälle von Massenmord in der Weimarer Republik.
Nachbarn hörten am 1. Dezember 1924, gegen 18:30 Uhr, Hilferufe vom Haus des angesehenen Werkdirektors Fritz Heinrich Angerstein in Haiger, einer Kleinstadt in Mittelhessen. Aus dem Gebäude stieg Rauch empor. Die Nachbarn fanden Angerstein blutüberströmt auf der Wiese liegen, sein Körper wies Stichwunden auf und auch der Filzhut war durchstochen.
Bei der Durchsuchung des Hauses bot sich den Einsatzkräften ein entsetzliches Bild. Im Schlafzimmer lag Angersteins Frau Katharina (Käthe). Sie war offenbar erstochen worden. Im Nebenzimmer wurde ihre 50-jährige Schwiegermutter Katharina Barth mit eingeschlagenem Schädel leblos gefunden und im Badezimmer lag Angersteins 18-jährige Schwägerin Ella Barth tot auf dem Boden. Die Schwiegermutter und die Schwägerin waren Mitbewohner im Haus. Die Polizisten fanden fünf weitere blutüberströmte Leichen. Das Hausmädchen Minna Stoll, der Buchhalter Reinhold Diethardt und der Sekretär Heinrich Kiehl, der Hausgärtner Alex Geiß und dessen Gehilfe Rudi Darr waren mit einer Axt erschlagen worden. Im Haus brannte es, die Feuerwehr konnte den Brand rasch löschen.
Fritz Angerstein wurde schwer verletzt in das Krankenhaus Haigen gebracht und operiert. Den Einsatzkräften schilderte er, dass er in der Stadt einkaufen gewesen sei. Nach der Rückkehr am Abend in sein Haus sei er von unbekannten Männern überfallen und mit einem Messer attackiert worden. Tageszeitungen berichteten vom achtfachen Mord und über Angerstein als einziges überlebendes Opfer des Massakers. Die Bewohner der Region wurden in Angst und Schrecken versetzt. Sie stellten Bürgerwehren auf; zusätzliche Schutzpolizisten wurden in den Ort geschickt.
Die Kriminalisten ermittelten in mehrere Richtungen. Unter anderem verdächtigten sie Angersteins Schwager Gottlieb Barth, weil man bei ihm Angersteins goldene Uhr und seine Brieftasche gefunden hatte. Barth hatte aber für die Tatzeit ein Alibi und gestand, die Uhr und die Brieftasche aus Geldnot gestohlen zu haben. Bei der Spurensuche stießen die Kriminalisten aus Frankfurt auf Indizien, die mit den Schilderungen Angersteins nicht vereinbar waren. Es gab keine konkreten Hinweise auf einen Raubüberfall und bei den Ermordeten war die Totenstarre schon zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt eingetreten. Auf dem Hirschfänger, mit dem Angersteins Frau erstochen worden war, befanden sich Fingerabdruckspuren des Direktors, ebenso auf den Leichen. Angerstein war verschuldet und stand im Verdacht, in seinem Unternehmen Geld unterschlagen zu haben. Bei den weiteren Einvernahmen verwickelte sich Angerstein in Widersprüche. Er wurde verhaftet und im Krankenhaus als Beschuldigter verhört. Nach langem Leugnen gestand Angerstein, den Raubüberfall erfunden und die Bluttaten selbst verübt zu haben.
Fritz Heinrich Angerstein, geboren am 3. Jänner 1891 in Dillenburg, Hessen, war ursprünglich Landvermesser. Er zog mit seiner Frau nach Haiger, wo er Direktor einer Kalksteingrube wurde. Im November 1924 stellte ein Mitarbeiter des Unternehmens Unregelmäßigkeiten fest und wollte deshalb eine Anzeige erstatten.
Angerstein wollte sich daraufhin umbringen, überlegte es sich aber anders. Er tötete in der Nacht auf den 1. Dezember 1924 seine psychisch kranke Frau mit 18 Stichen seines Hirschfängers. Danach erschlug er mit einer Axt seine bei ihm wohnende Schwiegermutter und kurz darauf seine Schwägerin, die erst in der Nacht mit dem Zug nach Hause gekommen war. Der Mörder schleifte die Leiche in das Badezimmer. Das nächste Opfer war das Hausmädchen.
Gegen sieben Uhr morgens erhielt Angerstein Besuch eines Buchhalters und eines Büroangestellten. Er holte die beiden Mitarbeiter nacheinander in sein Bürozimmer und ermordete sie mit der Axt. Die letzten Mordopfer waren der Sohn des Hausgärtners und ein Hilfsarbeiter; beide hatten auf dem Grundstück gearbeitet.
Nach den acht Morden vergoss Angerstein Benzol in einigen Räumen im Erdgeschoß und im ersten Stock, verließ das Haus und zeigte sich in einigen Geschäfte in der Stadt. In einem Geschäft kaufte er zwei Tafeln Schokolade und erwähnte gegenüber dem Personal, dass sie „für seine liebe Frau“ seien. Als es dunkel wurde, kehrte er in sein Haus zurück. Er entzündete die Benzolreste, um die Morde zu verschleiern. Allerdings geriet nur ein Teil des ersten Stocks und des Daches in Brand. Danach brachte er sich mit einem Messer mehrere Stichwunden bei. legte sich in die Wiese und rief um Hilfe.
Der Schwurgerichtsprozess im Landgericht Limburg begann am 6. Juli 1925 und dauerte eine Woche lang. Der Angeklagte verhielt sich ruhig, zeigte keine Trauer oder Reue und nannte kein plausibles Motiv für seine Bluttaten. In den psychiatrischen Gutachten wurde Angerstein ein „hervorragender Verstand“, ein „ausgezeichnetes Gedächtnis“, eine „scharfe Logik“ und ein „hervorragendes Unterscheidungsvermögen“ bescheinigt. Einen „Zustand der Bewusstlosigkeit“ oder eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, die eine freie Willensbestimmung während der Tatzeit ausgeschlossen hätte, habe man nicht erkennen können.
Fritz Angerstein wurde 13. Juli 1925 wegen achtfachen Mordes achtmal zum Tod verurteilt. Er verzichtete auf Rechtsmittel und wurde am 17. November 1925 im Zentralgefängnis Freiendiez mit dem Richtbeil hingerichtet.
Werner Sabitzer
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2024
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