Internationale Migrationsangelegenheiten
Flucht und illegale Migration
2022 war ein Rekordjahr für Flucht und illegale Migration. In der EU haben rund eine Millionen Drittstaatsangehörige Asyl beantragt und rund vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer Schutz erhalten. In den Krisenjahren 2015/16 haben 1,3 Millionen Menschen Asylanträge in der EU gestellt.
In Österreich haben letztes Jahr 108.780 Personen Asyl beantragt und über 90.000 Ukrainerinnen und Ukrainern wurde Schutz gewährt. Somit sind 200.000 schutzsuchende Personen in Österreich administriert worden, was zwei Prozent der Gesamtbevölkerungszahl entspricht. 2021 wurden 39.930 und im Krisenjahr 2015 88.340 Asylanträge in Österreich gestellt. Zehn Prozent aller Asylanträge in der Europäischen Union wurden letztes Jahr allein in Österreich gestellt, obwohl die österreichische Bevölkerung lediglich zwei Prozent der EU-Bevölkerung ausmacht. Österreich ist somit im EU-Vergleich ums Fünffache disproportional belastet. In absoluten Zahlen lag Österreich hinter Deutschland, Frankreich und Spanien, aber vor Italien und Griechenland. Diese Zahlen lassen sich im Wesentlichen durch drei Migrationsentwicklungen erklären: Neben der Flucht von großteils Frauen und Kindern aus der Ukraine erfolgte ein signifikanter Anstieg illegaler Migration auf Migrationsrouten über die Türkei und die temporäre Eröffnung neuer Migrationsrouten im Westbalkan.
Die ukrainische Flüchtlingskrise.
Der russische Aggressionskrieg gegen die Ukraine hat eine gewaltige Fluchtbewegung ausgelöst. Es sind derzeit fast vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in der EU registriert. Die ukrainischen Flüchtlinge überquerten die Grenzen nach Polen, Ungarn, Rumänien, Moldawien und in die Slowakei, wobei besonders Polen stark betroffen ist. Bis zu 140.000 Ukrainerinnen und Ukrainer – hauptsächlich Frauen und Kinder – überquerten täglich die EU-Außengrenze. Kein Asylsystem kann solche Zahlen stemmen, aber die Europäische Union hat als direkter Nachbar die Verpflichtung, den Schutz in der Herkunftsregion sicherzustellen. Dieser speziellen Verpflichtung der Europäischen Union und der Schutz des Asylsystems wurde Rechnung getragen, indem alle Vertriebenen aus der Ukraine einen EU-weit einheitlichen Schutzstatus „temporärer Schutz“ genießen. Die Innenministerinnen und Innenminister haben sich bereits am 3. März 2022 darauf einigen können und damit gezeigt, dass die EU handlungssicher und rasch auf Krisen reagieren kann. Das vorübergehende Aufenthaltsrecht soll bis März 2024 bestehen.
Die Solidarität und Handlungssicherheit der Europäischen Union in Reaktion auf die ukrainische Flüchtlingskrise ist wahrscheinlich die effektivste Antwort auf eine Flüchtlingskrise in der jüngeren Vergangenheit weltweit. Die aktuelle Flüchtlingswelle aus der Ukraine umfasst deutlich mehr Personen als andere Migrationsbewegungen in vergleichbarer Zeit. So sind beispielsweise im Jahr 2017 fast drei Millionen Menschen aus Venezuela und im Jahr 2021 knapp über eine Million aus Afghanistan geflüchtet.
Die Europäische Union hat in kürzester Zeit Zugang zur Grundversorgung sowie zu Bildung und Arbeit für vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sichergestellt und somit das Prinzip „Schutz in der Herkunftsregion“ gelebt. Die Europäische Union hat damit gezeigt, dass Schutz in der Herkunftsregion eine Selbstverständlichkeit ist und kann das Gleiche von weiteren Nachbarstaaten bei internationalen Flüchtlingskrisen erwarten.
Der aktuelle Fokus im Zusammenhang mit der Ukraine liegt auf der Unterstützung der circa 90.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Österreich, insbesondere der Gewährung des Zugangs zur Grundversorgung, zum Bildungssystem und zum Arbeitsmarkt. Österreich leistet in der Ukraine nicht-militärische Unterstützung und humanitäre Hilfe. Die stark betroffenen Aufnahmestaaten Polen und Moldawien werden auch durch direkte Transfers von Schutzbedürftigen nach Österreich unterstützt.
Visaliberalisierungen am Westbalkan.
Österreich erlebte letztes Jahr einen starken Anstieg der Zahl an Asylanträgen durch „untypische“ Nationalitäten, darunter Tunesien und Indien. Insgesamt wurden letztes Jahr 19.500 Asylanträge von Indern und 12.500 Asylanträge von Tunesierinnen und Tunesiern in Österreich gestellt, was ein Drittel der Asylanträge letztes Jahr ausmacht. Weder Indien noch Tunesien waren im Jahr 2021 unter den Top fünf Asylantragsnationalitäten.
Eine Routenbefragung ergab, dass beinahe alle Inder und Tunesier auf dem Luftweg ohne Visumspflicht nach Serbien einreisten und dann über Ungarn nach Österreich gelangten. Die Visabefreiung dieser Nationalitäten von Serbien war somit der wesentlichste Faktor für die Entwicklung dieser neuen Migrationsroute. Das Bundesministerium für Inneres bemühte sich im Laufe des Sommers um Allianzen auf EU-Ebene, um eine Anpassung der Visapolitik Serbiens zu erwirken. Im September ergriffen Österreich und Ungarn die Initiative und starteten Verhandlungen mit Serbien auf höchster politischer Ebene. Im Oktober reagierte die Europäische Kommission auf den österreichisch-ungarischen Vorstoß und erhöhte auch den Druck auf Serbien.
Trilaterales Abkommen.
Die österreichisch-ungarischen Verhandlungen mündeten in ein trilaterales Abkommen, das im November vereinbart wurde und eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Außengrenzschutz, Schleppereibekämpfung, Rückkehr und Visa umfasst. Die Europäische Kommission beschloss Mitte Oktober ein Westbalkan-Maßnahmenpaket, das eine stärkere Frontex-Präsenz und neue EU-Gelder für Schleppereibekämpfung vorsieht.
Das Ergebnis der trilateralen und schließlich EU-Maßnahmen war die Einführung der Visapflicht durch Serbien für Tunesien mit 20. November 2022 und für Indien am 1. Jänner 2023. Dieses Ergebnis ist ein großer Erfolg für das Bundesministerium für Inneres, das hier entscheidende Akzente setzten konnte. Die Asylanträge sind seitdem deutlich zurückgegangen.
Migrationsdruck über die Türkei.
Österreich liegt entlang der sogenannten östlichen Mittelmeer- und Westbalkanroute. Die Einreise entlang dieser Route erfolgt hauptsächlich über die Türkei nach Griechenland oder Bulgarien und dann weiter über den Westbalkan und Ungarn nach Österreich. Die Türkei beherbergt circa vier Millionen Migrantinnen und Migranten sowie Schutzsuchende und birgt daher ein massives Migrationspotenzial.
Österreich ist das erste Zielland entlang der östlichen Migrationsrouten mit effektiven und belastbaren Ersterfassungs-, Asyl- und Grundversorgungssystemen. Deswegen ist Österreich schon seit Jahren disproportional von Flucht und illegaler Migration betroffen und hat seit 2015 mehr als 160.000 Personen einen Schutzstatus gewährt, was den kombinierten Schutzgewährungen von 18 Mitgliedstaaten gleicht. Diese Route wird insbesondere von Syrerinnen und Syrern und Afghaninnen und Afghanen genutzt, die seit Jahren einen sehr wesentlichen Anteil der Asylanträge in Österreich ausmachen.
Die Zahl der Asylanträge von Syrerinnen und Syrern ist im Jahr 2022 auf einem sehr hohen Niveau leicht gestiegen (auf circa 19.000 Anträge). Die Zahl der Asylanträge von Afghaninnen und Afghanen hat sich letztes Jahr fast verdreifacht (auf über 24.000 Anträge) vor dem Hintergrund der Machtübernahme der Taliban. Der ständig hohe Druck entlang dieser Route ist eine große Herausforderung: Obwohl Österreich ein Schengen-Binnenland ist und nicht an der EU-Außengrenze liegt, erlebt es die Realität eines „de facto“ Außengrenz-Mitgliedstaats. Diese Tatsache ist auf die viel zu hohen Ankunftszahlen in Österreich zurückzuführen, die durch die sogenannte Sekundärmigration innerhalb der EU und die viel zu niedrige Erfassungs- und Registrierungsquote an der Außengrenze (25 %) verursacht werden.* Einfach gesagt, der EU-Außengrenzschutz ist defizitär, weshalb Österreich immens belastet ist.
Die strukturellen Schwächen des EU-Außengrenzschutzes haben einen enormen Migrationsdruck auf Österreich zur Folge. Vor diesem Hintergrund führt Österreich seit 2015 Binnengrenzkontrollen zu Ungarn und Slowenien und seit September auch zur Slowakei durch. Binnengrenzkontrollen kompensieren den defizitären EU-Außengrenzschutz und sind eine Antwort auf den daraus resultierenden Migrationsdruck sowie Sicherheitsrisiken, wie etwa die Infiltration terroristischer Elemente in die Migrationsbewegungen.
Die gleichen Hintergründe erklären das österreichische Veto gegen die Schengenerweiterung um Bulgarien und Rumänien im Dezember 2022. Auf EU-Ebene braucht es eine Stärkung des legistischen, operativen und finanziellen Rahmens für den EU-Außengrenzschutz insbesondere zur Türkei. Das Bundesministerium für Inneres bringt sich in diesem Sinne stark auf EU-Ebene ein, um eine Verbesserung der Gesamtsituation für die EU und dadurch auch eine Entlastung für Österreich zu erreichen.
Ausblick.
Das Jahr 2023 wird bestimmt weitere Herausforderungen im Migrations- und Asylbereich mit sich bringen. Entscheidend wird sein, den EU-Außengrenzschutz und das EU-Asyl- und Migrationssystem so zu gestalten, dass Österreich entlastet wird und die Außengrenz-Mitgliedstaaten selbst rechtskonform gegen Migrationsdruck vorgehen können. Die Rückgewinnung der staatlichen Kontrolle über Migrationsbewegungen ist die große Herausforderung dieses Jahres und wahrscheinlich auch der darauffolgenden Jahre.
Georg Luke
* Die Registrierung hat im Ersteinreise-Mitgliedstaat zu erfolgen. Die Registrierung ist die Voraussetzung für die Umsetzung der Dublin-III-Verordnung. Demnach sollte (vereinfacht darstellt) der Ersteinreise-Mitgliedstaat Verantwortung für die Asylwerberin/ den Asylwerber übernehmen. Wenn die Asylantragssteller in einen anderen Mitgliedstaat trotzdem weiterreisen, dann sollten diese gemäß der Dublin-III-Verordnung wieder in den Ersteinreise-Mitgliedstaat überstellt werden. Dafür bekommt der Ersteinreise-Mitgliedstaat Unterstützung durch EU-Gelder und den Agenturen, etwa EUAA und Frontex.
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 3-4/2023
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