Zeitgeschichte
Verschleppt, misshandelt, getötet
Während der Besatzungszeit von 1945 bis 1955 verschleppten die sowjetischen Besatzer mehr als 1.000 Österreicherinnen und Österreicher, darunter leitende Polizisten und Ministerialbeamte. Einige von ihnen wurden hingerichtet oder überlebten die Strapazen in der Gefangenschaft nicht.
Der Kriminalbeamte Anton Marek leitete nach dem Zweiten Weltkrieg die Gruppe 5 der Staatspolizei im Bundesministerium für Inneres (BMI). Die Einheit unterstand direkt dem Innenminister Oskar Helmer. Die Beamten dieser Gruppe sollten unter anderem Übergriffen der Besatzungsmacht nachgehen, die Sowjets beobachten und Beweise sammeln. Marek war auch mit den Einvernahmen von Flüchtlingen betraut, um zu staatspolizeilich relevanten Informationen zu kommen.
Oberinspektor Anton Marek war mehrmals in der sowjetischen Stadtkommandantur in Wien. Am 17. Juni 1948 ersuchte ihn sein sowjetischer Verbindungsoffizier, in die Kommandantur zu kommen. Marek teilte seinen Kollegen mit, wohin er gehe und dass er nach etwa einer Stunde in das Büro zurückkehren werde. Als er nach mehr als zwei Stunden nicht zurückgekommen war, riefen seine Kollegen den Leiter der Abteilung 2 (Staatspolizeiliches Büro), Ministerialrat Dr. Maximilian Pammer, an. Pammer ahnte, dass Marek von den Sowjets festgehalten worden sein könnte und besprach die Situation mit dem Leiter der Staatspolizeilichen Abteilung der Polizeidirektion Wien, Dr. Oswald Peterlunger. Geplant war eine Blitzaktion. „Wir ... beschlossen, dass wir die Sowjetkommandantur mit Patrouillenwagen der Polizei umstellen und mit jedem Wagen, der aus der Kommandantur herauskommt, wenn notwendig eine Karambolage bewerkstelligen, um auf diese Weise den Marek zu befreien“, erinnerte sich Pammer in der ORF-Dokumentation „Österreich II“. Die Polizisten kamen zu spät. Marek war bereits in das sowjetische Gefängnis nach Baden gebracht worden. Die Bundesregierung protestierte erfolglos beim Alliierten Rat gegen die Verschleppung Mareks.
Anton Marek, geboren am 28. September 1889 in Budapest-Vasas hatte beim Putschversuch der Nationalsozialisten im Juli 1934 Aufständische in einer Turnhalle in der Siebensterngasse in Wien-Neubau aufgespürt. Deshalb wurde er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 13. März 1938 verhaftet und am 2. April 1938 als „Schutzhäftling“ in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Am 27. September 1939 wurde Marek in das KZ Flossenbürg überstellt und am 2. März 1940 kam er in das KZ Dachau zurück. Am 22. April 1940 wurde er aus dem KZ entlassen.
Marek wurde am 7. Februar 1951 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen „Spionage“ und „Teilnahme an einer verbrecherischen Organisation“ zum Tod durch Erschießen verurteilt. Die Todesstrafe wurde am 19. März 1951 vom Obersten Gericht der UdSSR in eine 25-jährige Freiheitsstrafe umgewandelt. Marek wurde in die Sowjetunion gebracht, wo er die Strafe in Zwangsarbeitslagern verbüßte. Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955 wurden die letzten noch in sowjetischen Lagern gefangen gehaltenen Österreicher begnadigt und durften nach Österreich zurückkehren. Mit dem 70. Heimkehrertransport traf Anton Marek am 25. Juni 1955 auf dem Bahnhof Wiener Neustadt ein. Er wurde von seinem Sohn und seiner Schwiegertochter empfangen; seine Frau war inzwischen verstorben.
Außer Marek wurden einige andere Exekutivbeamte verschleppt, unter ihnen der Gendarm Franz Kiridus, der ebenfalls in der Staatspolizei im BMI tätig war. Kiridus wurde am 16. Juli 1948 an der Zonengrenze auf dem Semmering von sowjetischen Soldaten festgenommen, wie Marek wegen Spionage zum Tod verurteilt und später zu 25 Jahren Haft begnadigt. Er konnte ebenfalls nach Abschluss des Staatsvertrags 1955 nach Österreich zurückkehren.
Im Zusammenhang mit der Verschleppung von Marek und Kiridus wurden von den Sowjets im Herbst 1948 zwei weitere Männer festgenommen – Igor Mermelstein und Viktor Ruew. Mermelstein arbeitete bei der Handelsabteilung des sowjetischen Elements der Alliierten Kommission. Er soll von einem Mitarbeiter Mareks als Agent gegen die Sowjets angeworben worden sein. Ruew war Dolmetscher bei der sowjetischen Erdölverwaltung im Büro für Tiefbohrungen. Er soll ab Mai 1948 drei Berichte über die sowjetische Ölindustrie an Mitarbeiter von Mareks Gruppe 5 übergeben haben. Mermelstein und Ruew wurden zu 25 Jahren Haft verurteilt. Ruew starb am 13. Dezember 1953 in einem sowjetischen Straflager. Mermelstein konnte im Dezember 1956 nach Österreich zurückkehren.
Der Verschleppung entgangen.
Andere hochrangige Beamte des Innenressorts entgingen einer Verschleppung nach Sibirien. Im Oktober 1946 verhafteten die Sowjets den Sicherheitsdirektor von Niederösterreich, Hofrat Franz Baier, weil er eine Weisung des Sowjetvertreters nicht weitergegeben hatte, wonach „im niederösterreichischen Sowjetsektor Streiks und öffentliche Demonstrationen jeder Art für verboten erklärt werden“. Baier wurde von einem sowjetischen Militärgericht wegen Sabotage von Befehlen der sowjetischen Kommandantur zu drei Jahren Haft verurteilt, aber am 23. Dezember 1946 aus der Haft entlassen, nachdem die Strafe in bedingte Haft umgewandelt worden war.
Baiers Nachfolger als Sicherheitsdirektor, Hofrat Andreas Liberda, hatte ebenfalls Probleme mit der russischen Besatzungsmacht. Am 4. Dezember 1949 wurde die Frau eines Gendarmen bei einem Nikolaus-Fest in einem Gasthaus in Hausmening von einem betrunkenen sowjetischen Offizier belästigt. Daraufhin kam es auf dem Heimweg zwischen dem Gendarmen und dem Offizier zu einer Auseinandersetzung. Dabei stürzte der Russe von einer Brücke in die Ybbs und ertrank. Innenminister Oskar Helmer verweigerte die von den Sowjets geforderte Auslieferung des Gendarmen, weil eine Untersuchung durch österreichische Behörden die Schuldlosigkeit des Beamten ergeben habe. Daraufhin forderten die Sowjets am 10. Dezember 1949 in einer Note an die Bundesregierung die Verhaftung und Auslieferung des Sicherheitsdirektors Liberda. Auch das verweigerte Helmer.
Erschossen in Moskau.
Ernst Feichtinger, geboren am 16. Oktober 1914 in Wiener Neustadt, war von 1940 bis 1945 Soldat in der Deutschen Wehrmacht. Nach Kriegsende trat er in die Sicherheitswache ein. Der Polizist wurde am 18. September 1951 von den Sowjets in Oberösterreich festgenommen. Ein Militärtribunal verurteilte ihn am 4. Dezember 1951 zum Tode wegen „Spionage“ für die USA. Ein Gnadengesuch wurde vom Politbüro des Zentralkomitees der UdSSR abgelehnt. Feichtinger wurde am 1. März 1952 in Moskau erschossen. Seine Asche wurde auf dem Donskoi-Friedhof in Moskau in einem Massengrab beigesetzt. Seine Hinterbliebenen erfuhren erst im Frühjahr 1957 von der Hinrichtung. Ernst Feichtinger wurde am 12. Jänner 1998 in Russland rehabilitiert.
Polizist, SS-ler und US-Agent.
Alfred Fockler, geboren am 31. Jänner 1907 in Wien, trat in die Wiener Sicherheitswache ein und wurde 1934 der Alarmabteilung zugeteilt. Bei der Niederschlagung des Putschversuches der illegalen Nazis am 25. Juli 1934 war Fockler bei der Räumung der von den Aufständischen besetzten Radio-Verkehrs-AG eingesetzt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 in Österreich wurde die Polizei „gesäubert“. Die neuen Machthaber erwogen, auch Fockler außer Dienst zu stellen. Weil der Polizist festgenommene Nazis aber „anständig behandelt“ hatte, wurde er im Dienst belassen. Fockler arrangierte sich mit den Nationalsozialisten, trat in die SS ein und war 1943 SS-Sturmscharführer. Er war auch Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der zahlreiche Hilfsorganisationen der Nazis unterstanden. Ende 1942 wurde Fockler über sein Ansuchen in den höheren Vollzugsdienst der Sicherheitspolizei aufgenommen. Er versah einige Zeit Dienst in Minsk, Wien und Köln. Dort nahmen ihn zu Kriegsende amerikanische Soldaten gefangen und brachten ihn in die USA, wo er als Agent ausgebildet wurde. Er arbeitete im Prisoners of War Interrogation Office (PIO) in Washington und unterstützte die Amerikaner bei der Suche nach ehemaligen Angehörigen der Gestapo, der SS und des SD. Er unterrichtete US-Offiziere auch in Verhörmethoden und Kriminalistik.
Nach seiner Rückkehr nach Österreich im Herbst 1945 wurde Fockler als Kriminalbeamter in die Bundespolizeidirektion Wien aufgenommen. Im Frühjahr 1946 begann er, für einen US-Geheimdienst zu arbeiten. Als „Alfred Müller“ war er für die Amerikaner im vereinigten alliierten Kommando in Europa (SHAEF) in Frankfurt am Main tätig, kehrte aber bald nach Wien zurück, wo er im „Security Office“ des US-Oberkommandos in Österreich beschäftigt und Mitarbeiter des US-Geheimdienstes „Strategic Service Unit“ (SSU) war. Nach der Reorganisation der SSU im Sommer 1947 arbeitete er in der Wien-Dependance der „External Survey Division 22“ (ESD 22).
Die Agententätigkeit Focklers blieb den sowjetischen Besatzern nicht verborgen. Einige sowjetische Offiziere waren zu den Amerikanern übergelaufen oder hatten ihnen Informationen geliefert. Am 23. April 1948 hielten Soldaten der Roten Armee zwischen St. Pölten und Amstetten ein Auto an und zwangen die vier Insassen mitzukommen. Einer von ihnen war Alfred Fockler, der angab, zu seiner Frau und seiner Tochter nach Gmunden fahren zu wollen. Während die drei Mitreisenden bald freigelassen wurden, blieb Fockler in Haft. Bei den Verhören sagte er unter anderem aus, dass ein Offizier des sowjetischen Militärstabs in Baden den US-Nachrichtendienst ODI in Wien gegen Bezahlung mit Informationen beliefere. Die Verbindung zwischen dem Offizier und den Amerikanern habe Margarethe Ottillinger hergestellt, die Leiterin der wichtigen Planungssektion im Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung. Sie habe als Agentin für die Amerikaner gearbeitet, wertvolle Informationen geliefert und auch Kontakte zu anderen Sowjetbürgern in Österreich gehabt. Im Herbst 1946 habe Ottillinger dazu beigetragen, dass Andrej Ivanovic Didenko, ein Ingenieur der Wirtschaftsabteilung der Sowjets in der Alliierten Kommission für Österreich, zu den Amerikanern überlaufen konnte.
Alfred Fockler wurde neben Spionage gegen die Sowjetunion im Auftrag der US-Dienste auch vorgeworfen, während seiner Zeit in Minsk als SS-Angehöriger an Massenerschießungen beteiligt gewesen zu sein. Er soll Agenten angeworben haben, darunter Angehörige der Roten Armee. Fockler wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt. Die Todesstrafe gegen „Vaterlandsverräter, Spione“ und „subversive Diversanten“ war erst im Jänner 1950 wieder eingeführt worden. Anfang Oktober 1951 verfasste der Verurteilte ein Gnadengesuch: „Mit Urteil des Kriegskollegiums des Obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 1.10.1951 wurde ich zum Tod durch Erschießen verurteilt. Ich bitte, das Urteil im Gnadenwege abzuändern, und bitte dabei um Berücksichtigung, dass ich in der Untersuchung die Aussagen freiwillig und vollkommen abgegeben habe ...“
Das Oberste Gericht der UdSSR leistete dem Gnadengesuch nicht Folge. Alfred Fockler wurde am 1. November 1951 in Moskau von einem Erschießungskommando hingerichtet. Die Leiche wurde eingeäschert und die Asche in einem Massengrab auf einem Friedhof in Moskau bestattet. Focklers Rehabilitierung wurde von einem russischen Gericht am 9. Juli 2002 abgelehnt.
Überlebt im Gulag.
Ein halbes Jahr nach Alfred Focklers verhängnisvollen Aussagen wurde Sektionsleiterin Margarethe Ottillinger am 5. November 1948 von sowjetischen Besatzungssoldaten festgenommen. Es handelte sich um den spektakulärsten Entführungsfall im Österreich der Nachkriegszeit. Ottillinger hatte mit ihrem Chef Peter Krauland, dem Bundesminister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, in Linz an einer Dienstbesprechung in der „Hütte Linz“ und einer Veranstaltung teilgenommen, bei der Bundeskanzler Leopold Figl einen Vortrag gehalten hatte. Bei der Rückfahrt nach Wien wurde das Auto gegen 15:30 Uhr bei der Ennsbrücke in St. Valentin, der Besatzungszonengrenze, von sowjetischen Besatzungssoldaten angehalten. Krauland und Ottillinger wurden in die sowjetische Kommandantur in St. Valentin gebracht. Während der Wirtschaftsminister und der Chauffeur am Abend ihre Fahrt nach Wien fortsetzen konnten, wurde Ottillinger festgehalten und in die sowjetische Kommandantur nach Baden gebracht. Ihr wurde vorgeworfen, NSDAP-Mitglied gewesen zu sein. Außerdem habe sie für die USA spioniert und einem Russen bei der Flucht in den Westsektor geholfen. Die Bundesregierung protestierte beim sowjetischen Hochkommissar erfolglos gegen die willkürliche Verhaftung der Sektionsleiterin.
Margarethe Ottillinger, geboren am 6. Juni 1919 in Steinbach in Niederösterreich, studierte als eine der wenigen Frauen Handelswissenschaften an der Hochschule für Welthandel, der späteren Wirtschaftsuniversität, und promovierte 1940 als 21-Jährige. Die hochbegabte Frau hatte sich ihr Studium als Werkstudentin bei einem Speditionsunternehmen selbst finanziert. Sie erhielt eine Anstellung bei der „Reichsvereinigung Eisen“ und wurde 1942 stellvertretende Leiterin der Außenstelle Südost, ohne Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat Ottillinger in das Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung ein, wo sie 1947 Leiterin der Planungssektion wurde. Die ehrgeizige Niederösterreicherin war eine enge Mitarbeiterin des Ministers Peter Krauland und die erste Frau in Österreich, die eine Sektion in einem Ministerium leitete. Sie galt als mächtigste und einflussreichste Beamtin der Republik. Sie erstellte einen Plan für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Österreichs, machte eine Bestandsaufnahme der von der Sowjetunion als „deutsches Eigentum“ beschlagnahmten Betriebe und schätzte deren Wert ein. Die Sowjets hatten in Österreich etwa 250 Industriebetriebe beschlagnahmt und in der USIA zusammengefasst, darunter die Donaudampfschiffahrtsgesellschaft (DDSG) und die Erdölindustrieanlagen in Niederösterreich. Viele Anlagen und Maschinen sowie Rohstoffe und Gewinne wurden in die UdSSR transportiert. Ottillinger wusste Bescheid, wie viel Erdöl die Russen in Niederösterreich förderten. Sie erreichte mit ihren Berechnungen, dass Österreich nach Norwegen die zweithöchste Pro-Kopf-Zuweisung der Mittel aus dem Europäischen Wiederaufbauprogramms (Marshall-Plan) erhielt. Ottillinger hatte regelmäßig Kontakt mit Briten, Franzosen und Amerikanern.
Nach ihrer Festnahme bei der Ennsbrücke wurde Margarethe Ottillinger in der sowjetischen Kommandantur in Baden wochenlang einvernommen, gedemütigt und misshandelt, um sie zu einem „Geständnis“ zu bewegen. Sie weigerte sich, vorgelegte Protokolle zu unterschreiben, wollte sich in der Zelle mit einer Schnur erhängen, wurde aber von Wärtern daran gehindert. Sie wurde in das Durchgangslager Neunkirchen gebracht, wo man mitteilte, dass sie von einem Sondergericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden sei. Die Todesstrafe war damals von Stalin für einige Jahre ausgesetzt worden. Anfang Mai 1949 wurde Ottillinger in die Sowjetunion transportiert und nach mehreren Stationen, unter anderem im KGB-Hauptquartier („Lubjanka“) in Moskau, in ein Straflager gebracht. Im Lager mussten die Gefangenen unter unmenschlichen Bedingungen Schwerarbeit verrichten, oft bei extrem tiefer Temperatur. Ottillinger lernte Russisch, verteidigte sich selbst und verfasste immer wieder Einsprüche und Beschwerdebriefe an den Untersuchungsrichter. Mehrmals wurde die Österreicherin zu Verhören nach Moskau gebracht. Im Lager erkrankte Ottillinger mehrmals schwer. Als sie zu einem Verhör nach Moskau gebracht werden sollte, kam von der Lagerleitung die Nachricht, sie könne nicht zum Verhör reisen, weil sie im Sterben liege. Sie hatte mehr als vier Wochen lang über 40 Grad Fieber. Da man Ottillinger einigermaßen gesund zum Verhör bringen wollte, kamen ein Offizier und ein Arzt in das Lager und versorgten die Schwerkranke mit Medikamenten. Ottillinger kam später in ein anderes Straflager. Anfang 1955 wurde ihre Haftzeit von 25 auf 10 Jahre herabgesetzt. Nach sieben Jahren Lagerhaft wurde sie freigelassen. Sie kam am 25. Juni 1955 auf einer Krankentrage auf dem Bahnhof Wiener Neustadt an. Sie litt an einer lebensgefährlichen Rippenfellentzündung. Im gleichen Heimkehrerzug befanden sich Oberinspektor Anton Marek und weitere 185 Österreicherinnen und Österreicher. In einem neuen Verfahren wurde Ottillinger von den sowjetischen Behörden 1956 von persönlicher Schuld freigesprochen und am 16. März 1994, zwei Jahre nach ihrem Tod, in allen ihr zur Last gelegten Punkten rehabilitiert. Die Wirtschaftsexpertin konnte in ihren Akt einsehen und wusste, wer sie verraten hatte. Ihrem Ex-Chef Peter Krauland warf sie vor, er habe sich bei ihrer Festnahme zu wenig für sie eingesetzt. Wäre er energischer gewesen, wären ihr sieben Jahre Leiden im Gulag erspart geblieben.
Nach ihrer Genesung trat Ottillinger in die Österreichische Mineralölverwaltung (OMV) ein, wurde 1958 Vorstandsdirektorin und handelte mit den Sowjets die ersten Gaslieferungen nach Österreich aus. Die Russen lieferten das erste Gas am 1. September 1968 nach Österreich. Einige Tage davor waren Truppen des Warschauer-Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert.
1982 ging Ottillinger 63-jährig in Pension. Sie sammelte Geld für den Bau der Wotrubakirche auf dem Georgenberg in Wien-Mauer, war Mitgründerin des Afro-Asiatischen Instituts in Wien und beriet den Wiener Erzbischof Franz Kardinal König in Fragen der Beziehungen zur Ostkirche. Sie übersiedelte in ein Heim der Servitinnen-Ordensgemeinschaft, der sie kurz vor ihrem Tod als Terziarin beitrat. Margarethe Ottillinger starb am 30. November 1992 in Wien und wurde im Gemeinschaftsgrab der Schwestern des Servitinnenordens auf dem Friedhof Mauer in Wien-Liesing bestattet. Der Platz vor der Wotrubakirche wurde am 9. Juni 2013 nach ihr benannt.
Tod des Ministerialrats.
Am 6. Dezember 1947 wurde bei der Wiener Polizei eine Abgängigkeitsanzeige erstattet: Der 60-jährige Dipl.-Ing. Paul Katscher, Eisenbahnexperte im Bundesministerium für Verkehr, habe am Tag davor gegen 17:30 Uhr seine Dienststelle in der Elisabethstraße 9 verlassen, sei aber nicht zu Hause eingetroffen, wie er es seiner Frau telefonisch angekündigt habe. Ministerialrat Katscher hätte am 6. Dezember zu einer intereuropäischen Gütertransportkonferenz nach Genf reisen sollen, bei der es unter anderem über die Frage des Verbleibs von 14.000 österreichischen Frachtwaggons gegangen wäre, die von der sowjetischen Besatzungsmacht nach Osteuropa gebracht worden seien.
Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass am 5. Dezember kurz vor 17:30 Uhr ein Mann in russischer Uniform das Gebäude Elisabethstraße 9 betreten und bald darauf wieder verlassen hatte. Es konnte nicht geklärt werden, was der Mann im Gebäude getan hatte. Ein weiterer Mann mit ausländischem Akzent erkundigte sich beim Portier des Amtsgebäudes, ob Paul Katscher das Ministerium schon verlassen habe, was der Portier verneinte. Etwa eine Viertelstunde später verließ Katscher seine Dienststelle. Ein Zeuge gab an, er habe gegen 17:30 Uhr gesehen, wie der Ministerialrat bei der Goethegasse von einem Mann in russischer Offiziersuniform und drei weiteren Soldaten angehalten worden sei.
Innenminister Oskar Helmer wandte sich mit einer Note vom 15. Dezember 1947 an die Sowjets im Alliierten Rat für Österreich und bat um Aufklärung, was mit Paul Katscher passiert sei. Auch Bundeskanzler Leopold Figl intervenierte. Eine Antwort der Sowjets blieb aus. Auch weitere Anfragen des Innenministeriums nach dem Verbleib Katschers wurden nicht beantwortet.
Erst viel später wurde den österreichischen Behörden das Schicksal des verschleppten Spitzenbeamten bekannt. Paul Katscher, der schon im nationalsozialistischen Regime schwer gelitten hatte, war nach Baden gebracht worden, zum Sitz der Kommandantur der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich. Die Sowjets hatten in Baden alle Hotels und viele Privathäuser für ihre Dienststellen und die Unterbringung ihrer Soldaten beschlagnahmt und das Viertel mit blickdichten Planken abgeriegelt. Ministerialrat Katscher wurde der Spionage zum Nachteil der Sowjetunion beschuldigt und in der Haft dazu gebracht, ein „Geständnis“ zu unterschreiben. Zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, wurde der Spitzenbeamte im April 1948 in ein sowjetisches Lager bei Lwow (Lemberg) gebracht, wo er am 9. Juni 1949 im Gefängnisspital starb. Ein geflüchteter Mithäftling berichtete, Katscher habe in der U-Haft in Baden versucht, sich zu erhängen. Im Lager Lwow angekommen, habe er nur noch aus „Haut und Knochen“ bestanden, seine Knie und Ellenbogen seien angeschwollen gewesen und sein Körper habe blau-gelb ausgesehen.
1.000 Verschleppte.
Zwischen 1945 und 1955 wurden in der sowjetisch besetzten Zone Österreichs mehr als 2.200 Zivilisten wegen angeblicher Spionage oder Kriegsverbrechen an UdSSR-Bürgern verhaftet. Etwa 1.000 von ihnen wurden verurteilt und in Straflager in die Sowjetunion gebracht.
Die letzte Verschleppung eines österreichischen Spitzenbeamten durch sowjetische Besatzer betraf Alfred Sokolowski. Der Chefdolmetscher der Stadt Wien und Verbindungsmann zur sowjetischen Kommandantur wurde im Jänner 1955 unter einem Vorwand in die Kommandantur gelockt, festgehalten und nach Moskau verschleppt. Als Grund nannten die Besatzer angebliche Kriegsverbrechen Sokolowskis während des Zweiten Weltkriegs. Alfred Sokolowski wurde im Oktober 1955 freigelassen. Er kehrte nach Wien zurück und arbeitete wieder in leitender Funktion beim Magistrat der Stadt Wien, zuletzt in der Magistratsdirektion (siehe: Karten für die Eisrevue; in: Öffentliche Sicherheit, Nr. 3-4/21, S. 85).
Werner Sabitzer
Quellen/Literatur:
- Bacher, Dieter; Knoll, Harald: Spione und Stalinopfer. Die Rolle österreichischer Zivilisten in den Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste in Österreich 1950–1953. In: Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPPS): Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies (JIPSS), Vol. 2, Nr. 2/2008, S. 99-108.
- Carsten, Catarina: Der Fall Ottillinger. Eine Frau im Netz politischer Intrigen. Herder, Wien 1983.
- Karner, Stefan (Hg.): Geheime Akten des KGB. Margarita Ottilinger. Leykam-Verlag, Graz 1992.
- Karner, Stefan: Im Kalten Krieg der Spionage. Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948-1955. Studienverlag, Innsbruck, Wien, Bozen, 2016.
- Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950-1955. Böhlau Verlag, Wien/Oldenbourg Verlag, München, 2009.
- Knoll, Harald; Stelzl-Marx, Barbara: Die Fälle Marek und Kiridus. Zur Sowjetischen Strafjustiz in Österreich. In: Karner, Stefan; Stangler Gottfried (Hg.): „Österreich ist frei!“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Verlag Berger, Horn/Wien, 2005, S. 143-147.
- Knoll, Harald; Stelzl-Marx, Barbara: Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945-1955. In: Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Beiträge. Oldenbourg Verlag, Graz, Wien, München, 2005, S. 275-322.
- Knoll, Harald; Stelzl-Marx, Barbara: „Wir mussten hinter eine sehr lange Liste einfach das Wort ,verschwunden‘ schreiben.“ Sowjetische Strafjustiz in Österreich; in: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Vollnhals, Clemens (Hg.): Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 201l, S. 169–219.
- Rauchensteiner, Manfried; Kriechbaumer, Robert: Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar, 2005.
- Schödl, Ingeborg: Im Fadenkreuz der Macht. Das außergewöhnliche Leben der Margarethe Ottillinger. Czernin Verlag, Wien, 2004.
- Stelzl-Marx, Barbara: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innenansicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955. Reihe Kriegsfolgen-Forschung (hg. von Stefan Karner), Band 6. Böhlau Verlag, Wien/Oldenbourg Verlag, München, 2012.
- Wetz, Ulrike: Geschichte der Wiener Polizeidirektion vom Jahre 1945 bis zum Jahre 1955. Mit Berücksichtigung der Zeit vor 1945. Phil. Diss., Wien 1971.
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 5-6/2022
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