Cold-Case-Management
Ungelöst, aber nicht vergessen
Cold Cases: Methoden wie die DNA-Analyse können für die Lösungungeklärter Kriminalfälle entscheidend sein.
© Robert Kneschke - stock.adobe.com
Ungelöste Kapitalverbrechen oder Vermisstenfälle werden seit elf Jahren im Bundeskriminalamt im Referat Cold-Case-Management (CCM) bearbeitet. Nicht nur dank des Know-hows der Ermittlerinnen und Ermittler, sondern auch durch mediales Interesse können Cold Cases geklärt werden.
Der Grazer Tanzschulinhaber und mehrfach preisgekrönte Turniertänzer Heinz Kern erhielt am 15. September 1972 ein an ihn adressiertes Paket mit Lebensmitteln. Darin befanden sich Getränkedosen, Brot, eine Stelze und „Verhackertes“ – ein Brot aufstrich. Nichts ahnend, aß er von dem Jausenpaket und starb wenig später im Landeskrankenhaus Graz, denn das Verhackerte war mit Arsen versetzt. Der Tanzschulinhaber erlag einer Vergiftung. Bis heute fehlt vom Täter jede Spur. Der „Fall Kern“ ging als ältester Cold-Case-Fall Österreichs in die Geschichte ein.
Mediales Interesse.
Ein ungelöster Fall zieht nicht nur die Aufmerksamkeit der Ermittlerinnen und Ermittler auf sich, sondern auch die der Bevölkerung und der Medien. Eine Berichterstattung im Fernsehen, in Zeitungen oder sonstigen Medien bringt für einen Cold-Case-Fall oft die Wende. Neue Zeugenaussagen, neue Beweise oder neue Tatverdächtige kommen so ans Licht und können für die Lösung des Falles entscheidend sein. Dass die Bevölkerung an der Klärung von Cold Cases großes Interesse hat, zeigt nicht zuletzt der Erfolg der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“, die seit 1967 im deutschen Fernsehen einen wichtigen Beitrag zur Öffentlichkeitsfahndung liefert.
Fernsehfandung.
ServusTV ist 2021 mit dem Format „Fahndung Österreich“ auf den Zug aufgesprungen und produziert in diesem Jahr vier Folgen, in denen die Mithilfe der Bevölkerung erbeten wird. Weiters versucht der Sender ATV mit „Cold Case Austria“ bei der Lösung ungeklärter Fälle mitzuwirken und auch die Tageszeitung Kurier bietet einen Podcast zum „Fall Kern“ an. In den Podcasts können die Zuhörerinnen und Zuhörer die Fälle nachhören und Hintergrundinformationen von Ermittlerinnen und Ermittlern in Erfahrung bringen, denn vielleicht hört ja genau die eine Person zu, die den entscheidenden Hinweis zur Ergreifung des Täters liefert. Im „Fall Kern“ konnten durch den Aufruf in „Fahndung Österreich“ rund 50 Jahre nach der Tat neue Hinweise erhoben werden. Die Untersuchungen dazu laufen.
Cold Case.
Tanzschulinhaber Heinz Kern bei einem Turniertanz mit seiner Frau:Er wurde 1972 vergiftet. Der „Fall Kern“ istÖsterreichs ältester „Cold-Case-Fall“.
© Votava/Imagno/Picturedesk.com
Wann wird ein Fall zu einem Cold Case? Mit dieser Frage beschäftigte sich Bezirksinspektor Reinhard Nosofsky vom Referat Cold-Case-Management (CCM) im Bundeskriminalamt und stellte eine Definition auf: „Ein Cold Case ist ein Kapitalverbrechen oder Vermisstenfall, der seit mindestens drei Jahren ungelöst ist und Potenzial hat, durch neue Ermittlungsergebnisse oder fortgeschrittene Untersuchungsmethoden gelöst zu werden.“
Das US National Institute of Justice (NIJ) hatte 2015 eine ähnlich lautende Definition formuliert. Bereits seit den späten 1980er-Jahren werden in den Vereinigten Staaten ungelöste Fälle mit Hilfe neuer Technologien, wie der DNA-Analyse oder dem automatisierten Vergleich von Fingerabdrücken versucht aufzuklären. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Cold Case Units in den USA. In Europa haben sich erst ab 2000 die ersten Cold-Case-Einheiten etabliert. Je nach Staatsorganisation und nationaler Behördenstruktur haben sich Unterschiede in der Aufbauorganisation gezeigt. In Deutschland gibt es beispielsweise in sieben von sechzehn Bundesländer Cold-Case-Einheiten, die ungeklärte Fälle analysieren und die Erkenntnisse etwa an die Mordkommissionen weitergeben beziehungsweise auch zum Teil selbst operativ tätig werden. In Norwegen unterstützt die Cold-Case-Einheit die lokale Polizei und in Schweden wird erst in einer administrativen Phase geprüft, ob der Fall operativ von den Cold-Case-Einheiten bearbeitet wird.
CCM im Bundeskriminalamt.
Am 1. Juli 2010 wurde mit dem Referat Cold-Case-Management eine eigene Einheit für ungelöste Kapitalverbrechen und Vermisstenfälle im Bundeskriminalamt eingerichtet, wodurch Österreich europaweit eine Vorreiterrolle einnahm. Ein Cold-Case-Verfahren ist für einen ungelösten Fall oftmals die letzte Chance, geklärt zu werden. Deshalb ist ein hoher Grad an Erfahrung und Professionalität notwendig, da alle Akten, Spuren und Beweise neu gesichtet und untersucht werden müssen. Im CCM werden mehrere ungeklärte Mord- und Vermisstenfälle gleichzeitig bearbeitet.
Auch wenn die Anzahl der aktiv bearbeiteten Fälle variiert, bleiben in Summe alle Fälle „in Bearbeitung“. Die gleichzeitige Bearbeitung von bis zu acht Fällen bedeutet für die drei bis vier Ermittlerinnen und Ermittler ein ständiges Um- und neuerliches Eindenken in die verschiedenen Fälle. Dadurch kann der Fokus, den der einzelne Fall benötigt, für den Gesamtüberblick verloren gehen. Das zehnjährige Jubiläum wurde zum Anlass genommen, Arbeitsschritte oder Vorgehensweisen zu evaluieren und gegebenenfalls neu auszurichten oder anzupassen. Bezirks inspektor Reinhard Nosofsky leitete die Evaluierung und arbeitete ein neues Vorgehen aus.
Evaluierung.
Das CCM hat die Planung, Umsetzung und Evaluierung von Cold-Case-Ermittlungen in Österreich über. Um Wissen und Best Practices auszutauschen, ist eine internationale Vernetzung wichtig. Ob in einem ungelösten Fall neue Erkenntnisse gewonnen werden, hängt nicht nur von den Cold-Case-Ermittlerinnen und -Ermittlern ab, sondern auch von den Expertinnen und Experten anderer Fachabteilungen im Bundeskriminalamt, der Unterstützung der Landeskriminalämter und der Zusammenarbeit mit externen Behörden, Ämtern und Instituten.
„Eine gute Vernetzung ist für das Gewinnen neuer Ermittlungsansätze essenziell. Daher werden im CCM 2.0 temporäre, multidisziplinäre Ermittlungsgruppen zum Einsatz kommen, die das Wissen und die Expertise aus den einzelnen Fachabteilungen, aber auch von anderen Dienststellen bündeln“, erklärt Nosofsky. In der Vergangenheit waren drei bis vier Ermittlerinnen und Ermittler mit allen Fällen betraut. Das CCM 2.0 soll, geleitet vom Teamgedanken, flexibel und aktiv agieren können. Ein Ermittlungsteam sollte zukünftig idealerweise aus fünf Personen bestehen. „Der Ansatz eines eigenständigen und kleineren Teams hat sich bereits in internationalen Modellen bestätigt. Mit dieser Größe können wir nicht nur die Kernaufgaben erledigen, sondern auch den internationalen Schriftverkehr und administrative Tätigkeiten effizient erledigen“, führt der Projektleiter aus. Um einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, wurde zudem das Forum „Erfahrung und Wissen“ als Kommunikationsplattform eingerichtet und in Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern die erste „Gesamtübersicht der ungeklärten Tötungsdelikte“ in Österreich erstellt.
Projektfall.
Im Zuge des Evaluierungsprojekts wurde die Theorie in der Praxis getestet und ein Vermisstenfall, nach einem Screening der Vermiss tendatei durch das „Kompetenzzentrum für Abgängige Personen“ (KAP) im Bundeskriminalamt, ausgewählt. Die Ermittlungsgruppe (EG) NAVIS, bestehend aus Expertinnen und Experten des CCM-Referats, der Kriminalanalyse, der kriminalpolizeilichen Assistenzdienste und der Forensik, beleuchtete den Fall nochmals, wodurch die Wiederaufnahme durch die Staatsanwaltschaft erwirkt werden konnte.
Vorgehen bei Cold Cases.
Das Cold-Case-Verfahren ist ein strukturierter Ablauf, von der Auswahl eines Falles über die Analyse mit der Bewertung und einer Entscheidung über die Fortführung des Verfahrens, der Festlegung der Methoden und der Umsetzung bis zum Abschluss der Ermittlungen. „Diese Prozesse und Abläufe sind jedoch flexibel, denn kein Fall gleicht dem anderen“, sagt Reinhard Nosofsky.
Ungelöst, aber nicht vergessen.
Das Ziel eines Cold-Case-Verfahrens ist die Aufklärung des Falles, wenngleich später nicht immer eine Verurteilung erfolgt. Gründe können verblasste Zeugenaussagen oder eine nicht vollständig geschlossene Indizienkette sein. Wenn die Ermittlungsansätze jedoch abgearbeitet, alle Untersuchungen ausgewertet und die Analysen abgeschlossen sind, aber der Fall immer noch ungeklärt bleibt, sollten laut Nosofsky auch die Ermittlungen analog der strafprozessualen Vorgehensweise „abgebrochen“ werden. Ein Abschlussbericht soll alle Ergebnisse und Erkenntnisse festhalten. Die Ermittlungsgruppe wird aufgelöst und die weitere Fallbearbeitung wieder von der örtlich zuständigen Polizeidienststelle übernommen. „Cold Cases dürfen nicht vergessen werden. Wenn es neue Zeugen, konkrete Hinweise und Spuren oder es neue Untersuchungsmethoden gibt, dann sollte der Fall sinnvoll koordiniert fortgesetzt werden“, betonte der Ermittler.
Romana Tofan
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 7-8/2021
Druckversion des Artikels (pdf, 378 kB)