100 Jahre Interpol (3)
Die IKPK von 1946 bis 1956
Im Juni 1946 wurde die Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKPK) in Brüssel wiedergegründet. Die Nachkriegsjahre standen im Zeichen des Wiederaufbaus der Organisation.
Nachdem die Tätigkeit der von den Nationalsozialisten dominierten Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Erliegen kam, initiierte Belgiens Generalinspekteur für innere Sicherheit Florent E. Louwage vom 6. bis 9. Juni 1946 im Justizpalast in Brüssel eine internationale Polizeikonferenz, um die IKPK wiederzugründen. Er bezeichnete die Konferenz als 15. Generalversammlung der IKPK; die 14. Generalversammlung im Juni 1938 war die letzte vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Finanziert wurde die Tagung in Brüssel vom belgischen Justizministerium, dem die Kriminalpolizei unterstand. Vertreten waren 43 Delegierte aus 17 Ländern: Ägypten, Belgien, Chile, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Iran, Jugoslawien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, die Tschechoslowakei und Türkei. Griechenland entschuldigte sich. Die USA übermittelten gute Wünsche; FBI-Chef J. Edgar Hoover ließ sich entschuldigen und versprach, bei der nächsten Konferenz dabei zu sein oder einen Vertreter zu entsenden. Österreich und Deutschland waren nicht eingeladen. Louwage lud auch Italien, Spanien, die Balkanländer und die Sowjetunion nicht ein – mit der Begründung, diese Länder seien nicht ausreichend organisiert und nach dem Krieg noch nicht völlig unabhängig.
„Kaum ein Jahr ist seit dem Ende des letzten Krieges vergangen, und da die Auswirkungen dieser jüngsten schrecklichen Katastrophe erheblich schlimmer sind als damals, gelten die Gründe, die seinerzeit für die Schaffung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission sprachen, heute in noch höherem Maße für ihren Weideraufbau“, sagte Oberstleutnant Louwage bei der Eröffnung der Konferenz. „Unsere Organisation beabsichtigt, sich gemäß den nationalen und internationalen Gesetzen mit aller Kraft für die Wiederherstellung von Ordnung und Frieden in der ganzen Welt einzusetzen ... Wir dürfen die Flamme nicht erlöschen lassen“, betonte Louwage.
Neue Statuten.
Die Delegierten beschlossen in Brüssel neue Statuten. Alle Spitzenfunktionäre der Organisation mussten von nun an gewählt werden. An der Spitze stand der Vorstand. Er bestand aus dem Präsidenten und sieben Vizepräsidenten. Florent E. Louwage wurde zum Präsidenten und der Franzose Louis Ducloux zum Generalsekretär der neuen IKPK gewählt. Ducloux war Leiter der Sûreté Nationale, der französischen Kriminalpolizei, Es wurde ein „Exekutivkomitee“ eingerichtet, bestehend aus fünf Mitgliedern, die auf fünf Jahre gewählt wurden. Das erste Komitee bestand aus dem Präsidenten Louwage, dem Generalsekretär Ducloux und den drei Hauptreferenten Werner Müller (Schweiz), Sir Ronald Howe (Großbritannien) und Harry Söderman (Schweden). Die „Großen Fünf“ des Exekutivkomitees sollten, wenn möglich, aus verschiedenen Ländern stammen. Der Generalsekretär sollte vorzugsweise aus jenem Land stammen, in dem die IKPK ihren Sitz hat. Als Amtssprachen beschlossen die Delegierten Englisch und Französisch. Die von den slawischen Teilnehmern als weitere Amtssprache geforderte russische Sprache wurde abgelehnt.
Als neuer Sitz der Organisation nach Wien und Berlin wurde Paris festgelegt. Die offizielle Adresse war Rue des Saussales 11, das Hauptquartier der französischen Polizei, wo Generalsekretär Ducloux als Leiter der Kriminalpolizei sein Büro hatte. Ducloux und sein kleines Team des Generalsekretariats saßen aber in einem Raum in einem Herrenhaus in der Rue Alfred de Vigny. Von der früheren IKPK war zwar noch etwas Geld vorhanden, aber das Büro des Generalsekretariats wurde überwiegend vom französischen Staat finanziert.
Jean Népote.
Ducloux wichtigster Mitarbeiter im Generalsekretariat, Jean Népote, reaktivierte die IKPK-Zeitschrift. Die erste Ausgabe der „Internationalen Kriminalpolizeilichen Rundschau“ erschien im September 1946. Népote ließ die Erfassungsformulare für Kriminelle ändern und das Feld für die Religionszugehörigkeit streichen. Er führte das System mit den farbigen Ecken ein – rot für internationale Ausschreibungen, grün für Warnhinweise zu internationalen Schwerverbrechern und blau für Anfragen zu Informationen über Kriminelle. Gelbecken betrafen vermisste Personen oder Menschen, die ihr Gedächtnis verloren haben, und mit schwarzen Ecken wurden Ausschreibungen gekennzeichnet, die nicht identifizierte Tote betrafen. Außerdem gab es noch die Farben Orange (unmittelbare Gefahren) und Purpur (Modus Operandi). Diebstahlsmeldungen waren nicht farblich gekennzeichnet. Die erste „Rote Ausschreibung“ („Red Notice“) betraf 1947 einen Russen, der einen Polizisten ermordet hatte.
Viele Karteien, und andere Personeninformationen aus dem Berliner Archiv der früheren IKPK waren verschwunden. Népote baute mit dem verbliebenen Informationsmaterial eine neue Verbrecherkartei auf. 1948 erhielt er einige Kisten mit IKPK-Akten, die von US-Soldaten aus dem IKPK-Sitz in Berlin-Wannsee mitgenommen worden waren. Offenbar waren diese Akten davor von den Amerikanern ausgewertet worden. Für seine Verdienste verliehen die Delegierten Jean Népote den Titel „Stellvertretender Generalsekretär“. 1963 wurde er zum Generalsekretär gewählt. Er übte diese Funktion drei Perioden lang bis 1978 aus.
Aufbauarbeit.
Von der Rue Alfred de Vigny zog das Generalsekretariat bald in einen etwas geräumigeren Sitz in der Rue Monceau und später in größere Büroräume in einem staatseigenen Bürohaus am Boulevard Gouvion Saint-Cyr 96. Bei der 17. Generalversammlung der IKPK im Juni 1948 in Prag beschlossen die Delegierten, dem Artikel 1 der Statuten den wichtigen Zusatz anzuhängen: „... unter striktem Ausschluss aller Angelegenheiten mit politischen, religiösem oder rassistischem Charakter“. 1949 traten Israel und Kanada der IKPK bei und die Kommission erhielt den Status einer beratenden Organisation der Vereinten Nationen. Ab 1950 wurde das Emblem der IKPK verwendet; später kam die Flagge hinzu.
1950 gab es einen Rückschlag bei der Aufbauarbeit: Nach der Entführung von drei Flugzeugen wollte die damalige Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) bei der Aufklärung die Unterstützung der IKPK. Während das IKPK-Generalsekretariat die Flugzeugentführungen als kriminelle Tat betrachtete, bestand FBI-Chef J. Edgar Hoover, damals Vizepräsident der IKPK, darauf, dass es sich bei den Entführern um „politische Flüchtlinge“ handle und die IKPK-Statuten Fälle mit politischem Charakter ausschließe. Die Folge war der Austritt der USA und einiger Ostblock-Staaten aus der IKPK. Die USA traten 1952 wieder in die Organisation ein; vertreten aber nicht mehr vom FBI, sondern vom Finanzministerium.
Bei der Generalversammlung 1951 wurde Louwage als Präsident wiedergewählt. Generalsekretär Ducloux trat zurück; sein Nachfolger wurde der Generalinspektor der Sûreté Nationale, Marcel Sicot. 1952 erhielt die IKPK in Lagny-Pomponne nahe Paris eine zentrale Funkstation. 1955 trat das 50. Land der Organisation bei. Am 1. Oktober 1955 bezog das Generalsekretariat in der Rue Paul Valérie 93 in der Nähe des Arc de Triomphe ein Haus mit 40 Räumen. Vorher befand sich im Gebäude die irische Botschaft. Die Miete zahlte das französische Innenministerium.
Mit Unterstützung der IKPK konnten in den Nachkriegsjahren eine Reihe von grenzüberschreitend agierenden Schwerkriminellen ausgeforscht und festgenommen werden, darunter Drogenhändler, Großbetrüger, Hochstapler und Kunstdiebe. 1947 erließ die IKPK 67 rote, blaue und grüne Fahndungsausschreibungen in den damals 24 Mitgliedstaaten und bearbeitete 280 Kriminalfälle.
Kürzel „Interpol“.
Als Telegrammadresse für die wiedergegründete IKPK wählte man „Interpol“, das Kurzwort für „International Police“. Die Telegrammadresse „Interpol“ wurde am 22. Juli 1946 bei der Pariser Postverwaltung angemeldet. Bei der 16. IKPK-Generalversammlung 1947 beschlossen die Delegierten nach einem Vorschlag des Italieners Giuseppe Dosi, das Kürzel „Interpol“ als Telegramm- und auch Postadresse auch bei den nationalen Zentralbüros zu verwenden. In den Medien wurde der Begriff „Interpol“ immer mehr verwendet und auch intern wurde inoffiziell das Kurzwort „Interpol“ anstatt der sperrigen Abkürzung IKPK gebräuchlich. Doch erst mit der Neufassung der Statuten bei der 25. Generalversammlung 1956 in Wien wurde „Interpol“ offizieller Bestandteil des neuen Namens „IKPO/Interpol“.
Werner Sabitzer
Im nächsten Heft: 100 Jahre Interpol (4) – Die IKPK von 1956 bis heute
Quellen/Literatur:
Bresler, Fenton: Interpol. Der Kampf gegen das internationale Verbrechen von den Anfängen bis heute. C. Bertelsmann Verlag, München 1993
Fooner, Michael: Interpol. Issues in World Crime and International Criminal Justice. Plenum Publishing Corporation, New York 1989
Goldenberg, Alexei: La Commission Internationale de Police Criminelle. Diss. Universität Paris, Paris, 1953
Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation – Interpol: 50 Jahre Interpol 1923–1973 (deutsche Bearbeitung: Bundeskriminalamt Wiesbaden), Wiesbaden, 1973
Interpol-Generalsekretariat Lyon, www.interpol.int
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2023
Druckversion des Artikels (PDF 319 kB)