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Kriminalgeschichte

Realer Mord im Burgtheater

Vor 100 Jahren erschoss eine junge Frau im Wiener Burgtheater einen Exilbulgaren. Der Mord war politisch motiviert; die Täterin befand sich aber nur wenige Monate in Haft.

Wiener Burgtheater: Schauplatz eines Politmordes am 8. Mai 1925 während der Aufführung des Dramas „Peer Gynt“
Wiener Burgtheater: Schauplatz eines Politmordes am 8. Mai 1925 während der Aufführung des Dramas „Peer Gynt“
© C.Stadler / Bwag

Im Wiener Burgtheater wurde am 8. Mai 1925 Henrik Ibsens Drama „Peer Gynt“ aufgeführt. Während der Vorstellung fielen Schüsse. Eine Frau hatte in Loge zwei im dritten Rang mit einem Revolver auf den bulgarischen Freiheitskämpfer Todor Paniza geschossen. Dieser wurde von drei Projektilen getroffen. Er starb in der Loge. Durch weitere vier Schüsse verletzt wurden seine Frau und ein Leibwächter.

Todor Paniza, geboren am 2. Juli 1879 in der bulgarischen Stadt Orjachowo, war ein Neffe des Revolutionärs Kosta Panica, der versucht hatte, den Ministerpräsidenten Stefan Stambolow zu ermorden und dafür zum Tod verurteilt worden war. Todor Paniza trat 1902 dem „Bulgarischen Makedonisch-Adrianopeler Revolutionären Komitee“ (BMARK) bei und nahm 1903 bei einem von der BMARK organisierten Aufstand (Ilinden-Preobraschenie-Aufstand) in Makedonien gegen die Osmanen teil. Danach kämpfte er gegen die Osmanen. Nach einem internen Streit um die Macht ermordete Paniza am 28. November 1907 die beiden Auslandsvertreter der IMORO in Sofia. IMORO war eine Umbenennung von BMARK. Schon vorher hatte er den Woiwoda Michael Daew umgebracht und seinen Platz eingenommen. 1908 beteiligte sich Paniza an der Jungtürkischen Revolution und kämpfte 1912/13 in den beiden Balkankriegen. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er in der bulgarischen Armee gegen die Franzosen und wurde in der Schlacht von Kriwolak verwundet. 1919 übernahm in Bulgarien der Bauernvolksbund die Macht. Paniza gründete in Newrokop die Mazedonisch-Föderative Organisation, mit der er die nationalistische „Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation“ (IMRO) ersetzen wollte. Daraufhin sandte die IMRO im Oktober 1922 über 400 Kämpfer nach Newrokop. Paniza konnte flüchten, ein Großteil seiner Mitstreiter wurde von den IMRO-Leuten gefangen genommen. Nach dem Putsch der bulgarischen Armee und der IMRO im Juni 1923 gegen den bulgarischen Ministerpräsidenten Aleksandar Stambolijski emigrierte Todor Paniza nach Jugoslawien und zog später nach Wien, wo er mit der von den Kommunisten unterstützten „IMRO Obedinena“ (Vereinigte IMRO) kooperierte und Aktionen gegen die IMRO und deren Führer fortsetzte.
Nach der Bluttat im Burgtheater ließ sich die Täterin widerstandslos vom im Theater diensthabenden Polizisten festnehmen. Es handelte sich um die exilierte Mazedonierin Melpomena Dimitrowa Karnitschewa, geboren am 16. März 1900 in Kruschewo in der heutigen Republik Nordmazedonien. Die bulgarisch-aromunisch-stämmige Frau flüchtete nach der Niederschlagung des BMARK-Aufstandes 1903 nach Bulgarien. Im September 1918 begann sie in München ein Studium, kehrte aber nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach Bulgarien zurück. Sie schloss sich einer Frauenbewegung mazedonischer Emigranten an und lernte ihr späteres Opfer Todor Paniza kennen, wurde aber von ihm enttäuscht, weil er Kontakte zur Kommunistischen Internationale und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen hatte. Dies habe ihrer Ansicht nach den Bestrebungen der bulgarischen Unabhängigkeitsbewegung in Mazedonien widersprochen.

Politmörderin Mentscha Karnitschewa
Politmörderin Mentscha Karnitschewa © Archiv

Karnitschewa, genannt „Mentscha“, gab den Mord sofort zu und nannte als Motiv, dass Paniza ein Verräter gewesen sei, weil er sich für eine geplante und von der Sowjetunion unterstützte Föderation der Balkan-Staaten eingesetzt habe. Mentscha behauptete, dass sie den Anschlag alleine geplant habe und von niemandem aufgefordert oder unterstützt worden sei. Das war möglicherweise eine Schutzbehauptung, denn es kann sein, dass der Mord von der IMRO in Auftrag gegeben worden war, da sie gegen die Föderation der Balkan-Staaten agierte und keinen weiteren Einfluss der Kommunisten auf dem Balkan wollte. Mentscha war mit der Schwägerin des Mordopfers befreundet und wohnte einige Monate in deren Wohnung in Wien-Neubau. Sie besorgte die Karten für die Burgtheater-Aufführung und gab sie an Todor Paniza und bulgarische Freunde weiter, als Dank dafür, dass sie bei der Schwester von Panizas Frau wohnen durfte. Mentscha stand der IMRO nahe, verschwieg dies aber der Polizei und dem Gericht.
Die Wiener Staatspolizei gab sich mit der Einzeltäter-These zufrieden. Mentscha wurde am 30. September 1925 im Landesgericht Wien wegen Mordes nur zu acht Jahren schweren Kerkers verurteilt. Das Oberlandesgericht erklärte die Verurteilte wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes für nicht haftfähig. Mentscha hatte angegeben, an einer Nierenerkrankung, Rheuma und schwerer Tuberkulose zu leiden. Sie wurde am 24. Oktober 1925 aus der Haft entlassen, des Landes verwiesen und in einen Zug nach Italien gesetzt. Im Dezember 1926 heiratete Mentscha den IMRO-Anführer Iwan Michajlow. 1945 zog sie mit ihrem Mann nach Italien. Sie starb 1964 in Rom.
Nach dem realen Mord im Burgtheater gab es nur eine kurze Unterbrechung, wohl auch, um das Publikum nicht zu verärgern. „Peer Gynt“ wurde zu Ende gespielt, allerdings wurden zwei Zeilen des Stücks wegen des aktuellen Bezugs ausgelassen: „Getrost, mein Freund! Ich habe Takt; / Man stirbt nicht mitten im fünften Akt.“

Werner Sabitzer


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2025

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