Polizeigeschichte
„Hochschule“ für Kriminalisten
Vor 100 Jahren wurde das „Kriminalistische Institut“ der Polizeidirektion Wien eingerichtet. Polizeijuristen und Interessierte aus ähnlichen Berufen erhielten „hochschulmäßigen Unterricht“ in kriminalistischen und kriminologischen Fächern.
Wiens Polizeipräsident Johann Schober legte im März 1919 der Regierung ein Reformprogramm vor, das neben der Aufrüstung der Wiener Polizei eine systematische Aus- und Weiterbildung der Polizisten auf allen Gebieten vorsah. Ein Schwerpunkt war die Kriminalistik. Deshalb ersuchte Schober die Regierung um die Genehmigung zur Errichtung eines „Kriminalistischen Instituts“ für die kriminologische Ausbildung der Polizeijuristen (Konzeptsbeamten). Schobers Reformpaket wurde im Oktober 1919 von der Regierung genehmigt. Es dauerte fünf Jahre, bis das „Kriminalistische Institut“ offiziell den Lehrbetrieb aufnahm.
Der Aufbau des „Kriminalistischen Instituts“ erfolgte Schritt für Schritt: Schober ließ im Jahr 1923 in der Stiftgasse 3 in Wien-Neubau ein gut ausgestattetes „Kriminalistisches Laboratorium“ einrichten. Es diente zur Anwendung wissenschaftlicher Methoden bei der Erforschung krimineller Tatbestände. Leiter des Laboratoriums war Dr. Siegfried Türkel, dessen Kanzlei sich neben dem Laboratorium in der Stiftgasse 1 befand. Türkel hatte Rechtswissenschaften studiert und war ab 1908 als Rechtsanwalt tätig. Zudem beschäftigte er sich mit Medizin, insbesondere Psychiatrie, sowie Psychologie, Physik und Chemie. Er leitete Kurse in kriminalistischen Fächern und hielt Vorlesungen in den wichtigsten einschlägigen Disziplinen wie kriminalistische Phänomenologie, Symptomatologie und Diagnostik sowie Kriminaltechnik. Türkel veröffentliche zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen, unter anderem in der Reihe „Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Kriminalistischen Laboratoriums“ der Polizeidirektion Wien.
„Kriminalistisches Institut“.
Im November 1924 wurde das lang geplante „Kriminalistische Institut“ eröffnet, als „Anstalt für hochschulmäßigen Unterricht und wissenschaftlich Forschung auf dem Gebiete der Kriminologie“. Im Jahr davor war an der Juridischen Fakultät der Universität Wien das „Institut für Kriminologie“ gegründet worden, das heutige Institut für Strafrecht und Kriminologie.
Das Kriminalistische Institut der Wiener Polizei war in erster Linie für die Weiterbildung der Akademiker der Polizeidirektion zuständig und sollte dem höchsten Stand der Kriminologie entsprechen. Das Vorlesungsangebot umfasste neben der allgemeinen und besonderen Kriminalistik unter anderem verwandte Fächer wie die kriminalistische Physik und die „Privatwirtschaftswissenschaft“, deren Kenntnis für Kriminalpolizisten als unentbehrlich betrachtet wurde. Die Vorlesungen standen auch Richtern, Staatsanwälten und Interessierten ähnlicher Berufe offen. Die ersten Vorlesungen wurden am 10. November 1924 abgehalten. Es gab 90 Hörer – neben Polizeijuristen auch Richter, Staatsanwälte sowie politische und Gemeinde-Beamte.
Das „Kriminalistische Institut“ war im Polizeigebäude Rossauer Lände 7 untergebracht. Hier befanden sich Hörsäle, in denen die meisten Vorlesungen abgehalten wurden. Darüber hinaus gab es Vorträge an der Technischen Hochschule in der Dreihufeisengasse (heute: Lehárgasse im sechsten Bezirk und in der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in der Westbahnstraße im siebenten Bezirk.
Das Lehrangebot wurde nach und nach ausgebaut. Im Winter 1925/26, beginnend mit 15. Oktober 1925, gab es fünf Vorlesungen: Eine Einführungsvorlesung über Kriminalistik und Instrumentenlehre, kriminalistisch wichtige Kapitel der Physik (kriminalistische Optik) sowie kriminalistische und mikroskopische Übungen (Doz. Dr. Siegfried Türkel), „Kriminalistisch wichtige Kapitel der Warenkunde und Technologie“ (Prof. Dr. Ernst Beutel), „Kriminalistisch wichtige Berufsschädigungen der Haut“ (Univ.-Prof. Dr. Moritz Oppenheim), „Privatwirtschaftswissenschaft“ (Prof. Julius Ziegler) sowie „Praktische Einführung in die photographische Technik“ (Dr. Josef Daimer). Für die Hörer des dritten Semesters wurden folgende Vorlesungen angeboten: „Spezielle Kriminalistik und kriminalistisches Konversatorium“ (Dr. Siegfried Türkel), „Kriminalistisch wichtige Kapitel der technischen Chemie“ (Prof. Dr. Böck), „Photochemie“ (Prof. Dr. Nowak), „Forensisch wichtige Kapitel der Toxikologie und verwandte Gebiete“ (Prof. Dr. Richard Wasicky) sowie „Ausgewählte Kapitel der gerichtlichen Medizin“ (Prof. Dr. Albin Haberda).
Im Sommersemester 1927 umfasste der Vorlesungsplan für das zweite Semester: „Allgemeine Kriminalistik“ (Dr. Siegfried Türkel), „Anthropologie mit Berücksichtigung der Erkennungslehre“ (Prof. Dr. Otto Reche), ein Porträt- und Daktyloskopie-Praktikum (Dr. Theodor Reimer), zwei Warenkunde-Vorlesungen (Dr. Rudolf Scheu und Honorardozent Gustav Linnert), ein „Photographisches Praktikum“ (Dr. Josef Daimer), „Privatwirtschaftswissenschaft“ (Prof. Julius Ziegler und Ass. Karl Meithner) sowie eine Einführungsvorlesung in die Chemie (Dr. Ing. Friedrich Böck). Die Vorlesungen für das vierte Semester umfassten Kriminalbiologie (Prof. Dr. Adolf Lenz), Psychologie (Prof. Dr. Karl Bühler), Kriminaltaktik (Polizeidirektor Dr. Bruno Schultz), graphische Reproduktionstechnik (Prof. Dr. Karl Albert), gerichtliche Schriftuntersuchung (Dr. Theodor Gottlieb), Einführung in die forensische Psychiatrie (Prof. Dr. Emil Reimann) sowie ausgewählte Kapitel aus der speziellen Kriminalistik mit Übungen (Dr. Siegfried Türkel). Dazu kamen außerordentliche Vorlesungen und Kurse.
Über einzelne Vortragsgegenstände konnten nach Abschluss jedes Semesters Prüfungen abgelegt werden. Nach Abschluss aller vier Semester war eine theoretische und praktische Prüfung über den gesamten Lehrstoff vorgesehen.
Auflösung der Institute.
Institutsleiter Siegfried Türkel war auch Mitgründer, Kuratoriumsmitglied und Sekretär der „Internationalen Kriminalistischen Akademie“, die 1929 in Lausanne gegründet wurde und in Wien ihren Sitz hatte. Türkel starb 58-jährig am 8. April 1933 in Gries im Sellrain (Tirol) an den Folgen einer schweren Erkrankung. Im Jahr darauf erschien seine letzte Publikation („Staubmasken für kriminalistische Laboratorien“).
Nach dem Tod Türkels wurde das „Kriminalistische Laboratorium“ 1933 aufgelöst, die Experimente erschienen zu kostspielig. Die Apparate und Instrumente des Laboratoriums, das in die benachbarte Kanzlei Türkels übersiedelt worden war, kamen in das Polizeigebäude an der Rossauer Lände. Einige Geräte und wissenschaftliche Werke waren nicht mehr vorhanden, man fand aber Versatzscheine. Türkel dürfte eine Reihe von Wertsachen des Instituts verpfändet haben.
Zuständig für das „Erbe“ des Laboratoriums war Hofrat Dr. Otto Steinhäusl von der Kriminalsektion der Wiener Polizei. Die Professorenstelle, die Türkel innegehabt hatte, wurde nicht mehr nachbesetzt. Das „Kriminalistische Institut“ wurde weitergeführt; administrativer Institutsleiter wurde Polizeidirektor Dr. Bruno Schulz. Während der nationalsozialistischen Diktatur in Österreich wurde das „Kriminalistische Institut“ aufgelöst.
Werner Sabitzer
Quellen/Literatur:
Bundes-Polizeidirektion in Wien (Hg.): Jahrbuch der Bundes-Polizeidirektion in Wien für das Jahr 1931. Selbstverlag, Wien 1932
Oberhummer, Hermann: Die Wiener Polizei. 200 Jahre Sicherheit in Österreich, Band I. Wien 1938
Sabitzer, Werner: Lexikon der inneren Sicherheit (Polizeilexikon Österreich), Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien/Graz 2008
Verband der Bundeskriminalbeamten Österreichs (Hg.): Der österreichische Bundes-Kriminalbeamte. Gedenkwerk anlässlich des 80jährigen Bestandes des Kriminalbeamtenkorps Österreichs. Wien 1933
Der Tod Professor Dr. Siegfried Türkels. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 11. April 1933, S. 2
Das kriminalistische Laboratorium des Kriminalistischen Instituts wird aufgelöst. In: Die Stunde, 6. Mai 1933, S. 3
Unregelmäßigkeiten im Kriminalistischen Institut. In: Neues Wiener Tagblatt (Tagesausg.), 8. Juni 1933, S. 8
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2024
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