Opferschutz
Videobefragung für Opfer
In Großbritannien haben Polizisten seit Kurzem die Möglichkeit, mit Opfern häuslicher Gewalt über einen Live-Videoanruf zu kommunizieren.
In den letzten Jahren hat die Technologie neue Wege eröffnet, um Opfern von häuslicher Gewalt schneller und effektiver helfen zu können. Eine vielversprechende Entwicklung ist die „Rapid Video-Response (RVR)“, bei dem Opfer von häuslicher Gewalt ihr Einverständnis geben, mit der Polizei nicht persönlich, sondern per Video zu kommunizieren, unmittelbar nachdem sie oder der Verdächtige den Tatort verlassen haben.
Die Opfer erhalten den gleichen Service (Möglichkeit der Meldung einer Straftat, Beratung, Gefährdungsbeurteilung und Einleitung weiterer Ermittlungsschritte) wie bei einem persönlichen Besuch von Polizeibediensteten, jedoch ohne zeitliche Verzögerung.
Ziel der RVR ist, Opfern häuslicher Gewalt schnell und effizient Unterstützung zu bieten. RVR ermöglicht es Opfern auch, eine polizeiliche Antwort zu erhalten, wenn sie nicht in der Lage sind, eine Polizeistation aufzusuchen, Angst vor Repressalien oder Angst vor der Anwesenheit der Polizei haben.
Studie.
Kent Police: Opfer von häuslicher Gewalt können mit der Polizei über einen Videoanruf kommunizieren © Kent Police
In Großbritannien wurde die RVR in mehreren Polizeibezirken bereits vor einiger Zeit eingeführt. In Kent wurde die erste randomisierte Studie mit 517 Teilnehmenden von 23. Februar bis 28. Mai 2021 durchgeführt, um die Wirksamkeit dieser Methode zu untersuchen. Für die Studie wurden über 18-jährige Opfer häuslicher Gewalt der mittleren Ebene der Kategorie 2 und 3 (Prioritäts- und Termingespräche) und die über eine stabile Internetverbindung verfügen, ausgewählt, wobei 253 Personen sich für die übliche Vorgehensweise (Telefongespräch oder z. B. einem Termin auf der Polizeistation) entschieden. 264 Personen nahmen das Angebot der Kommunikation per Video an.
In der Studie wurden beide Varianten miteinander verglichen. Sobald ein Opfer häuslicher Gewalt die Notrufnummer 999 anrief, wurde überprüft, ob die Anruferin oder der Anrufer für RVR die Kriterien erfüllt, dem Opfer wurde erklärt, wie RVR funktioniert und gefragt, ob es an der Studie teilnehmen möchte. Wenn das Opfer zustimmte, wurde ihm ein Link über GoodSAM (eine Internetplattform) gesendet, wo es auf den Live-Videoanruf zugreifen und mit einer Polizistin oder einem Polizisten sprechen konnte.
Zehn Tage nach dem Anruf wurde eine von der Polizei geleitete Bewertung vom Cambridge Centre of Evidence-Based Policing durchgeführt. Diese Auswertung umfasste Telefoninterviews über die Opferzufriedenheit, die mit strengen Skripten und Datenerhebungstechniken durchgeführt wurden.
Von den 517 Personen haben 80,5 Prozent an den Telefoninterviews teilgenommen. In den Interviews wurden Fragen unter anderem zur Angst und zum Vertrauen in die Polizei gestellt.
Die Ergebnisse: Die Reaktionszeit der Polizei mit RVR war deutlich kürzer als die durchschnittliche Zeit für den Einsatz eines Polizeifahrzeugs. Zudem erleichterte es den Opfern, Beweise zu sammeln, ohne sich in noch größere Gefahr zu begeben. Dies führte zu einer Beschleunigung der Beweisaufnahme.
Die Zufriedenheit der Opfer nahm insgesamt zu: 89 Prozent der weiblichen IPV-Opfer gaben an, mit der Unterstützung zufrieden zu sein, verglichen mit 78 Prozent vor der Einführung von RVR. Die Festnahmeraten von Verdächtigen waren in der RVR-Gruppe um 50 Prozent höher und das Vertrauen in die Polizei war höher in der Gruppe, die RVR nutzten. Auch die Bearbeitungszeit pro Anruf verkürzte sich für die Polizeibediensteten um eine Stunde und 23 Minuten und es gab um 25 Prozent weniger Rückrufe in den Notrufzentralen. In Kent und in mehreren Polizeibezirken im Osten Englands wird RVR Opfern häuslicher Gewalt optional angeboten. Polizeikräfte sehen auch hier eine Steigerung bei der Opferzufriedenheit, eine schnellere Beweissicherung und Verfolgung von Straftätern.
Für ein Ausrollen des Angebots sollen aber noch weitere Daten über einen längeren Zeitraum gesammelt werden, um die Auswirkungen der RVR besser beurteilen zu können.
Sonja Jell-Nemati
Anmerkungen
1 Details zur Studie: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s41887-022-00075-w?pdf=openurl und https://www.college.police.uk/support-forces/practices/rapid-video-response-rvr-domestic-abuse , zuletzt aufgerufen am 24.03.2024
2 Die Covid-Pandemie hat womöglich zu einer breiteren Akzeptanz in der Öffentlichkeit für die Kommunikation per Video beigetragen.
3 Intimate Partner Violence (IPV): Definition der WHO: Gewalt in der Partnerschaft bezieht sich auf Verhaltensweisen innerhalb einer intimen Beziehung, die körperliche, sexuelle oder psychische Schäden verursachen, einschließlich körperlicher Aggression, sexueller Nötigung, psychischem Missbrauch und kontrollierenden Verhaltensweisen. Diese Definition umfasst Gewalt sowohl durch gegenwärtige als auch durch ehemalige Ehegatten und Lebenspartner. https://apps.who.int/violence-info/intimate-partner-violence .
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 5-6/2024
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