Kriminalgeschichte
Morde, Raub und mildes Urteil
Oskar Wrany ermordete 1945 und 1946 in Wien mindestens drei Menschen und schoss bei Überfällen auf weitere Menschen. Der Serienmörder wurde nach 13 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen.
Im Währinger Park in Wien wurde am 22. Februar 1946 die Leiche des 15-jährigen Herbert Ketterer gefunden. Der Elektrikerlehrling war erschossen worden. Sein Mörder hatte ihm das Bargeld, die Armbanduhr und andere Gegenstände gestohlen. Den Kriminalbeamten des Wiener Sicherheitsbüros gelang es in den nächsten Monaten nicht, den Mörder auszuforschen. Deshalb ließ der Vater des Mordopfers, der Elektrotechniker Josef Ketterer, in Wien Plakate anbringen, auf denen er die geraubten Gegenstände beschrieb und für Hinweise auf den Mörder 10.000 Schilling auslobte, damals fast ein Jahresgehalt eines Arbeiters.
Am 5. September 1946 kam ein junger Mann in die Wohnung von Josef Ketterer und seiner Frau Stephanie in der Strindberggasse in Wien-Simmering und behauptete, er wisse, wer der Mörder des Sohnes sei. Als Beweis zeigte er den Eltern die Armbanduhr des Mordopfers. Er forderte 5.000 Schilling. Dafür werde er den Namen des Mörders nennen. Ketterer ersuchte daraufhin den Fremden, mit ihm zum nächsten Wachzimmer zu gehen. In diesem Moment zog der Unbekannte eine Faustfeuerwaffe und schoss auf Ketterer und dessen Frau. Trotz der schweren Schussverletzungen wehrte sich der Elektrotechniker heftig und versuchte, dem Angreifer die Waffe aus der Hand zu reißen. Der Täter flüchtete. Josef Ketterer starb auf der Fahrt in das Krankenhaus, seine Frau überlebte schwer verletzt.
Zwei Stunden nach der Bluttat hielt ein Polizist in der Simmeringer Hauptstraße einen jungen Mann an und nahm ihn in das Wachzimmer mit, um die Identität festzustellen. Auf die Blutspuren an seinem Hemd angesprochen, antwortete der Festgenommene, sie stammten von einer „Notschlachtung“.
Bei einer Gegenüberstellung erkannte Stephanie Ketterer ihren Peiniger wieder. Daraufhin gab Wrany zu, den Raubüberfall auf Josef und Stephanie Ketterer begangen zu haben. Er gestand auch, deren Sohn Herbert in den Währinger Park gelockt und erschossen zu haben, um die Wertsachen des Lehrlings zu rauben.
Entwurzelt.
Beim Mörder handelte es sich um den 19-jährigen Oskar Wrany, den Sohn eines sudetendeutschen Migrantenpaares. Als er vier Jahre alt war, musste ihm der linke Unterschenkel amputiert werden. Als 14-Jähriger stahl er einem Schüler in Nikolsburg ein Sparbuch, um nach Wien reisen zu können. In Znaim musste er deswegen eine dreiwöchige Jugendarreststrafe absitzen. Sein Vater schickte ihn nach Wien, wo er die Lehr- und Versuchsanstalt für chemische Industrie besuchte. Er galt als guter Schüler. Wegen seiner Beinprothese musste er nicht zur Wehrmacht. Nach dem Zweiten Weltkriegs befanden sich Wranys Eltern ebenfalls in Wien, wurden aber nach Deutschland ausgewiesen. Oskar Wrany blieb mittellos in Wien zurück. Er bestahl Schüler und nahm in der Schule Lehrbücher und Formulare mit, um ein Abschlusszeugnis zu fälschen. Bald brach er die Schule ab und zog aus dem Schülerheim aus. Weitere Diebstähle und Einbrüche folgten. Wrany erbeutete unter anderem Mikroskope und andere technische Geräte. Er fälschte mit Unterstützung eines Komplizen Lebensmittelkarten und verkaufte sie auf dem Schwarzmarkt.
Ein dritter Raubmord.
Bei den Einvernahmen im Sicherheitsbüro gestand Oskar Wrany einen weiteren Mord. In der Nacht auf den 17. Dezember 1945 hatte er mit dem 17-jährigen Gießerlehrling Leopold Unterwerner in die Bäckerei Anton Eder in der Oberen Amtshausgasse in Wien-Margareten eingebrochen. Wrany hatte seinen jungen Komplizen in einem Heim kennengelernt. In der Bäckerei wurden die beiden Einbrecher vom Bäckerlehrling Karl Mrna, der dort übernachtet hatte. Wrany zwang ihn, einen Sack Mehl ins Freie zu tragen und sich dann wieder ins Bett zu legen. Als der Lehrling um sein Leben flehte, schoss ihm Wrany aus kurzer Distanz in den Kopf. Mrna starb. Das Mehl sowie Mehl- und Brotkartenabschnitte verkaufte das verbrecherische Duo auf dem Schwarzmarkt. Im Frühjahr 1946 brach Wrany neuerlich in die Bäckerei Eder ein und stahl Mehl, das er wieder am Schwarzmarkt verkaufte.
Mehrere Mordversuche.
Die hohe kriminelle Energie, die Rücksichtslosigkeit und die Menschenverachtung Wranys zeigten sich bei weiteren brutalen Überfällen, bei denen die niedergeschossenen Opfer knapp überlebten. Wäre er nach dem Mord an Josef Ketterer nicht rasch festgenommen worden, hätte er nach Ansicht der Ermittler mit großer Wahrscheinlichkeit weitere Raubmorde verübt.
Mit dem 19-jährigen Karl Reßmann brach Wrany in mehrere Gebäude ein. Reßmann gab sich mit einem geringeren Anteil an der Beute zufrieden, als Unterwerner von Wrany gefordert hatte. Wrany und Reßmann brachen im April 1946 in die Lebensmittelkartenausgabestelle in einer Schule in Wien-Ottakring ein. Vor dem Einbruch forderte Wrany seinen Komplizen auf, einen Mord zu begehen – als „Bewährungsprobe“ und damit er niemals gegen Wrany bei der Polizei oder Gericht aussagen werde, ohne Gefahr zu laufen, selbst am Galgen zu enden. Reßmann hätte einen Polizisten erschießen sollen. Er weigerte sich aber. Wrany verübte am 15. Mai 1946 einen zweiten Einbruch in die Ottakringer Schule. Diesmal nahm er Unterwerner mit. Als sie im Schulgebäude auf einen Polizisten trafen, schoss Unterwerner mehrmals auf den Wachmann, verfehlte ihn aber. Der Polizist flüchtete, nachdem seine Pistole versagt hatte. Wrany schoss dem Flüchtenden nach; die Schüsse gingen daneben. Bei einem dritten nächtlichen Besuch dieser Schule wollte Wrany den Wachmann vom Garten aus durch das Fenster erschießen. Der Polizist dreht aber unvermutet das Licht aus. Wrany und sein Komplize verzichteten daraufhin auf den Einbruch.
„Erledigen wir sie!“
Wrany und Unterwerner verübten am 27. März 1946 einen weiteren brutalen Überfall. Sie gingen zur Wohnung des Pressekorrespondenten Viktor Ergert am Rennweg in Wien-Landstraße. Ergert hatte in einem Zeitungsinserat eine Leica-Kamera zum Verkauf angeboten und die beiden Besucher gaben sich als Kaufinteressenten aus. In der Wohnung befanden sich auch Ergerts Frau Hermine und sein Sohn Viktor. Während des Verkaufsgesprächs zog Unterwerner eine Pistole und forderte die Familienmitglieder auf, sich an die Wand zu stellen. Wrany durchsuchte unterdessen die Wohnung und raubte Wertgegenstände, darunter die Leica-Kamera, zwei Armbanduhren, eine Taschenuhr, eine goldene Uhrkette, amerikanische Zigaretten, einen Ring und 2.500 Schilling Bargeld.
Als Wrany drohte, die Überfallenen zu „erledigen“, brach Hermine Ergert zusammen und klagte über Herzschmerzen. Viktor Ergert forderte die Kriminellen auf, seiner Frau zu helfen. Wrany brachte der Erkrankten zwar Wasser, sagte aber dann zu seinem Komplizen: „Erledigen wir sie! Du den Alten, ich den Jungen!“ Dann schossen die beiden Räuber auf Vater und Sohn. Trotz der schweren Verletzungen stürzte sich der Sohn auf Wrany, dessen Pistole im Handgemenge zu Boden fiel. Ergert ergriff sie, zielte auf Wrany, aber es löste sich kein Schuss. Unterwerner, der die Wohnung schon verlassen hatte, kam zurück und schoss auf den jungen Ergert. Wrany schlug mit einem Hammer auf den Kopf des Vaters ein. Auch Hermine Ergert wurde verletzt. Die Gewalttäter flüchteten auf die Straße und schossen auf Viktor Ergert jun., der ihnen nachrannte und „Hilfe, Mörder!“ schrie. Ergert wurde von zwei weiteren Projektilen im Gesicht getroffen. Er überlebte die Schussverletzungen ebenso wie sein Vater und seine Mutter.
„Tragödie eines Heimatlosen.“
Das Schwurgerichtsverfahren gegen Oskar Wrany begann am 21. Juni 1947 im Landesgericht Wien. Dem Angeklagten wurden drei Morde, fünf Mordversuche, drei bewaffnete Raubüberfälle, elf Einbrüche sowie Verstöße gegen das Waffengesetz zur Last gelegt. Der Staatsanwalt bedauerte in seinem Plädoyer, dass gegen einen „Verbrecher wie Wrany wegen einer Unzulänglichkeit des Gesetzes“ kein Todesurteil gefällt werden könne. Der Angeklagte sei ein „Mörder aus Passion“, der keine Achtung vor Menschenleben habe. Wranys Verteidiger bezeichnete den Kriminalfall als „Tragödie eines Heimatlosen“.
Nach viertägiger Verhandlungsdauer wurde Wrany am 24. Juni 1947 vom Schwurgericht zu 20 Jahren Kerker verurteilt. Da er zur Tatzeit noch nicht volljährig war, konnte keine höhere Strafe verhängt werden. Die Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Obersten Gerichtshof verworfen. Wranys Komplize Leopold Unterwerner, der zur Tatzeit noch nicht 18 Jahre alt war, wurde am 28. Juni 1947 vom Jugendgericht Wien wegen zweifachen Mordversuchs sowie mehrerer Raubüberfälle und Einbrüche zu acht Jahren strengen Arrests verurteilt.
Vorzeitige Haftentlassung.
Nach etwas mehr als 13 Jahren im Kerker wurde der Dreifachmörder Oskar Wrany am 8. Jänner 1960 auf Bewährung entlassen. Möglich wurde die vorzeitige Haftentlassung durch die Regelung über die bedingte Entlassung aus dem Jahr 1920. Demnach konnten Strafgefangene, die zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt hatten, zur Probe entlassen werden.
Die vorzeitige Haftentlassung des Serienmörders Wranys und ein brutaler Mädchenmord am Tag seiner Entlassung führten zu Debatten im Parlament und Diskussionen in der Bevölkerung über eine Verschärfung der Strafen für Mörder. Der 26-jährige, wegen Gewalt- und Eigentumsdelikten vorbestrafte Hausmeister Johann Rogatsch vergewaltigte, folterte und erwürgte am 8. Jänner 1960 in Wien die Sportstudentin und Versicherungsinkassantin Ilse Moschner, zerstückelte die Leiche und verteilte die Körperteile auf Abfalleimern. Rogatsch wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er wurde am 15. Jänner 1974 in der Justizanstalt Stein in Niederösterreich von einem Mitgefangenen erwürgt. Sein „Richter und Henker“ war der verurteilte Doppelmörder Ernst Karl.
Als Reaktion auf die vorzeitige Entlassung des Serienmörders und des Mädchenmords kündigte Justizminister Dr. Otto Tschadek an, dass „lebenslänglich auch lebenslänglich bedeuten“ solle. Im Justizministerium wurde eine Novelle der Strafprozessordnung vorbereitet, mit der die automatische Freilassung von lebenslang verurteilten Mördern abgeschafft und die Sicherheitsverwahrung für abnorme Rechtsbrecher eingeführt werden sollten. „Lebenslang“ bedeutete danach auch nicht immer „lebenslang“. Denn nach 15 Jahren Haft muss erstmals geprüft werden, ob der Verurteilte unter bestimmten Voraussetzungen (Fortkommen gesichert, günstige Prognose im psychiatrischen Gutachten u. a.) auf Bewährung entlassen werden kann.
Werner Sabitzer
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 1-2/2023
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