Exekutivgeschichte
Täter, Opfer, Mitläufer
Polizeioffizier Gernot Sattler beschäftigte sich in seiner Bachelorarbeit an der Fachhochschule Wiener Neustadt mit der Geschichte der Polizei und Gendarmerie in Leoben von 1930 bis 1955.
Johann M. war Kommandant eines kleinen Gendarmeriepostens in der Obersteiermark. Als am 25. Juli 1934 Nationalsozialisten in Österreich einen Putschversuch gegen den Ständestaat begannen, wollten einige Aufständische den Gendarmerieposten stürmen. Kommandant M. dachte nicht daran, die Dienststelle zu übergeben und verteidigte sie mit sechs Kollegen. „Nur über meine Leiche werdet ihr meinen Posten besetzen“, soll der Gendarm laut einer Gendarmeriechronik-Eintragung gesagt haben. Als sich Verstärkung näherte, gaben die Nazis die Belagerung auf und flüchteten. Johann M. erhielt für sein tapferes Verhalten ein Ehrenzeichen des Bundesstaates Österreich verliehen.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich im März 1938 wurden Gendarmeriebeamte, die dem neuen Regime kritisch gegenüberstanden, versetzt, frühpensioniert, entlassen oder verhaftet. Auch Johann M. kam ins Visier der neuen Machthaber. Er wurde zu einem Kurs nach Graz geschickt. Als er sich beim Exerzieren am Fuß verletzte, wurde der ehemalige Postenkommandant beurlaubt und kurz darauf entlassen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des nationalsozialistischen Gewaltregimes 1945 wendete sich die Situation wieder. Johann M. wurde rehabilitiert und erhielt 1946 vom Landesgendarmeriekommando eine Bestätigung ausgestellt, dass er kein Nationalsozialist gewesen war. 1947 wurde Johann M. Beamter der oberösterreichischen Landesregierung.
Anton F. war Kommandant eines benachbarten Gendarmeriepostens. Er trat bereits am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein und übergab den Nazis beim Juliputschversuch die Dienststelle ohne Widerstand und ohne sich mit seinen Vorgesetzten abgesprochen zu haben. Die Putschisten hielten den Posten einen Tag lang besetzt. Als Soldaten anrückten, verließen die Besetzer den Gendarmerieposten, einige von ihnen flüchteten nach Deutschland. Anton F. rechtfertigte seine Vorgangsweise mit der Begründung, er habe „der Bevölkerung keinen Schaden zufügen“ wollen. Er wurde degradiert und auf eine kleinere Dienststelle versetzt. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde Anton F. zum Gendarmerieabteilungsführer befördert – ein großer Sprung in seiner beruflichen Karriere. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes trat Anton F. Ende Mai 1945 wegen eines von ihm behaupteten Nervenleidens in den Krankenstand. Er wurde im Dezember 1945 aus dem Gendarmeriedienst entlassen. Anton F. betrieb seine Wiederaufnahme und wurde im Jänner 1947 als „tragbar“ wieder in die Gendarmerie aufgenommen. Im April 1948 trat er 60-jährig den Ruhestand an und erhielt eine Pension.
„Lange NS-Zeit“.
Die unterschiedlichen Laufbahnen der beiden Postenkommandanten in einer politisch brisanten Zeit hat Gernot Sattler von der Landespolizeidirektion Steiermark in seine Bachelor-Arbeit „Die ‚lange NS-Zeit‘ in Österreich 1930–1955. Opfer/Täter/Mitläufer? Die Geschichte der Exekutive im Raum Leoben“ eingearbeitet. Sattler hat an der FH Wiener Neustadt den Bachelor-Studiengang „Polizeiliche Führung“ absolviert. Dieses Studium ist die Voraussetzung für die Beförderung zum „Leitenden Beamten“ (Polizeioffizier). In seiner Bachelor-Arbeit hat sich Sattler, der auch Mitglied des Fachzirkels „Exekutivgeschichte und Traditionspflege“ ist, auf Basis regional- und sozialhistorischer Zugänge mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in der Zwischenkriegszeit bis zur Staatsvertragsunterzeichnung 1955 auseinandergesetzt. Er gibt in seiner Arbeit einen chronologischen Überblick über die Ereignisse und setzt sich mit regionalen Ereignissen sowie Entwicklungen der handelnden Akteure in diesem Zeitraum auseinander. Die biografischen Ausführungen bieten einen authentischen Einblick in das dienstliche und private Leben jener Zeit.
Sattlers Arbeit wurde von Ministerialrat Mag. Dr. Joachim Steinlechner, Mitarbeiter in der Abteilung „Historische Angelegenheiten“ des BMI, betreut. Die Bachelor-Arbeit stieß in und außerhalb des Innenressorts auf Interesse. Das Thema war der steirischen Kronenzeitung in ihrer Ausgabe vom 14. September 2022 einen Aufmacher und einen zweiseitigen Beitrag wert.
Forschungsprojekt.
Im Frühjahr 2021 startete im BMI das Forschungsprojekt „Die Polizei in Österreich 1938-1945. Brüche und Kontinuitäten“. In dieses von Mag. Gerald Hesztera, Leiter der Abteilung BMI-I/A/3 (Sicherheitspolitik), geleiteten wissenschaftlichen Projekt, sind sowohl externe Forschungseinrichtungen (Universität Graz, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Bundesanstalt Mauthausen Memorial) als auch Experten des BMI (Fachzirkel „Exekutivgeschichte und Traditionspflege“) eingebunden. Im Projekt soll die Geschichte der Polizei und Gendarmerie zur Zeit des Nationalsozialismus umfassend und transparent erforscht werden. Die Erkenntnisse dienen als Grundlage für eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Exekutive vor, während und nach der NS-Zeit.
Die wissenschaftliche Arbeit von Gernot Sattler steht am Beginn einer Publikationsreihe zur NS-Thematik in der Polizei in Österreich. Der Fachzirkel werde neben wissenschaftlichen Arbeiten zum Projekt-Sammelband weitere Monografien zum Thema beisteuern, gab Exekutivhistoriker Joachim Steinlechner bekannt.
W. S./J. S.
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2022
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