Koordinationsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat
Rückholen und schützen
Laut der „Bundesweiten Koordinationsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat“ stieg die Zahl der Verschleppungsfälle in den letzten Jahren stetig an. Um dem entgegenzutreten, seien verstärkte Aufklärung und Präventionsarbeit erforderlich.
Die 18-jährige Schülerin Sara kam kurz vor den Sommerferien unentschuldigt nicht zur Schule. Ihre Schulfreundin machte sich Sorgen, weil Sara in letzter Zeit zurückhaltend geworden war. Sara wurde gegen ihren Willen unter dem Vorwand, die Groß-mutter sei krank, in das Herkunftsland der Eltern gelockt, überwacht und sollte bald zwangsverheiratet werden. Familienmitglieder drohten ihr, sie umzubringen, falls sie versuche, Hilfe zu holen. Ihre Reisedokumente und ihre Kommunikationsmittel wurden ihr abgenommen. Sie fand dennoch eine Möglichkeit, Mitarbeiterinnen der Online-Beratung des Vereins Orient Express ihre Situation zu schildern. Die Koordinationsstelle des Vereins ermöglichte eine sichere Rückholung nach Österreich.
Maria war 16 Jahre alt und befand sich in Ausbildung. Seit ihrer Pubertät war sie zu Hause immer wieder physischer und psychischer Gewalt ausgeliefert. Mitglieder ihrer Familie hatten erfahren, dass sie einen Freund hatte. Sie warengegen diese Beziehung. Die Jugendliche hatte ein Gespräch zwischen ihrem Vater und ihrer Tante mitgehört und erfuhr, dass sie in den Ferien im Ausland zwangsverheiratet werden sollte. In ihrer Verzweiflung wendete sie sich an ihre Lehrerin, die den Verein kontaktierte. Nach einem Erstgespräch erfolgte eine Meldung an die Kinder- und Jugendhilfe und eine Unterbringung in der anonymen Schutzeinrichtung des Vereins.
Der Verein Orient Express – Beratungs-, Bildungs- und Kulturinitiative für Frauen ist ein gemeinnütziger, politisch und konfessionell unabhängiger Verein mit Sitz in Wien. Der Verein betreibt eine Frauenberatungsstelle, zwei Schutzeinrichtungen für Mädchen und junge Frauen, eine bundesweite Koordinationsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat sowie ein Lernzentrum. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung gilt Orient Express als erste Anlaufstelle bei Zwangsheirat und Verschleppung österreichweit. Neben der Beratung und Betreuung leisten die Mitarbeiterinnen des Vereins intensive Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in Bezug auf Zwangsheirat, verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt und Verschleppung.
Koordinationsstelle.
Seit Anfang 2017 betreibt der Verein eine bundesweite Koordinationsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat. Die Koordinationsstelle ist für Verschleppungsfälle von Österreich in das Ausland in Zusammenhang mit Zwangsheirat, Zurücklassung von Ehefrauen im Ausland als „Bestrafungsaktion“ oder von Jugendlichen als eine Disziplinierungsmaßnahme zuständig.
Junge Menschen, die sich gegen die traditionellen Wertvorstellungen der Eltern wehren und wie viele andere Jugendliche ihre Freiheit genießen wollen, werden zur Disziplinierung im Herkunftsland der Eltern zurückgelassen. Betroffene Personen im Ausland, die sich an Hilfseinrichtungen wenden, riskieren, dass sie noch mehr kontrolliert, misshandelt oder im schlimmsten Fall getötet werden. „Einige Mädchen werden plötzlich von der Schule in Österreich abgemeldet und verschwinden spurlos im Ausland“, sagt Meltem Weiland, Leiterin der „Koordinationsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat“.
Corona-Pandemie.
Während des ersten Lockdowns 2020 verzeichnete die Koordinationsstelle in einer Woche fünf Fälle von Verschleppungen von Mädchen ins Ausland. Durch Schlie-ßungen von Schulen, Lehrstellen und außerschulischer Angebote, sind zahlreiche Verschleppungsfälle einige Wochen oder Monate unerkannt geblieben. Da in Österreich der Flugverkehr ausfiel, wurden viele Mädchen und junge Frauen mit dem Auto ins benachbarte Ausland gebracht und von dort mit dem Flugzeug weiter in das Herkunftsland der Eltern gebracht“, berichtet Weiland. Während des zweiten Lockdowns im Herbst 2020 wurden viele weitere Fälle von Verschleppungen bekannt, die im Sommer stattgefunden hatten. „2017, am Beginn unserer Arbeit in der Koordinationsstelle, haben wir neun Fälle von Verschleppungen gehabt, 2021 waren es 40 Fälle“, sagt die Leiterin der Koordinationsstelle. Wir haben 31 Frauen und Mädchen aus dem Ausland zurückholen können. Neben Mädchen, die zur Zwangsheirat bestimmt waren, waren es Frauen, die von ihren Männern im Urlaub im Ausland zurückgelassen worden waren - als Bestrafung.
Die Rückkehr der Verschleppten nach Österreich wird dadurch verhindert, indem den Betroffenen die Reisedokumente und ihre Mobiltelefone abgenommen und sie oftmals isoliert und stark überwacht werden. Viele Hilfesuchende kontaktieren die Koordinationsstelle im Geheimen oder die Kontaktaufnahme erfolgt über Vertrauenspersonen. Der Auftrag der Koordinationsstelle besteht darin, die Betroffenen bei der Rückkehr zu beraten und zu betreuen. In Kooperation mit dem österreichischen Außenministerium, dem Innenministerium und allen fallrelevanten Akteur/-innen erfolgt eine Organisation und Koordination der Rückholungen der Betroffenen.
Eine-Chance-Regel.
Bei Zwangsheirat und Verschleppung gilt die „Eine-Chance-Regel“. Diese besagt, dass professionelle Helfer/-innen womöglich nur einmal die Chance haben, mit betroffenen Personen in Kontakt zu kommen.
Neben der Beratung und Betreuung der Hilfesuchenden beraten die Mitarbeiterinnen der Koordinationsstelle Fachpersonen, die beruflich oder privat mit diesem Thema konfrontiert sind. Deshalb werden jährlich Mitarbeiter/-innen aus unterschiedlichen Berufsfeldern sensibilisiert und eingeschult, da der Erstkontakt häufig bei der Polizei, der Kinder- und Jugendhilfe oder in Bildungsinstitutionen erfolgt. Die Zusammenarbeit mit der Polizei in Wien ist laut Weiland sehr gut. Sie schult Polizeibedienstete von der Führungsebene bis zu Ersteinschreiter/-innen.
Arbeitskreis gegen Verschleppung und Zwangsheirat. Die Koordinationsstelle leitet den Arbeitskreis gegen Verschleppung und Zwangsheirat, die eine Vernetzung relevanter Organisationen und Ministerien ermöglicht, wie der Bundesministerien für Inneres, Justiz, für europäische und internationale Angelegenheiten und der Frauensektion im Bundeskanzleramt. Im Arbeitskreis erfolgt ein Austausch über aktuelle Entwicklungen sowie Verbesserungen und Lösungsansätze für die Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen.
„In den letzten Jahren ist die Zahl der Verschleppungsfälle stetig gestiegen. Verschleppung und Zwangsheirat ist eine Menschenrechtsverletzung, die verhindert und bekämpft werden muss„, sagt Weiland. Um Menschenrechte einhalten zu können, ist die Prävention vor einer Verschleppung und Zwangsheirat von zentraler Bedeutung.
Die Sicherheit von durch Zwangsheirat und Verschleppung bedrohten und betroffenen Personen liegt nicht allein in deren Eigenverantwortung, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die die Zusammenarbeit des Staates mit seinen unterschiedlichen Institutionen, inklusive der Polizei, den Bildungsinstitutionen, NGOs und der Zivilgesellschaft erfordert.
Zwangsheirat ist eine Straftat, für die bei einer Verurteilung bis zu fünf Jahren Haft drohen (§ 106a StGB). Familien zwingen ihre Kinder – meist ihre Töchter – zur Heirat aus vielerlei Begründungen: kulturelle Wertvorstellungen, innerfamiliärer Druck, wirtschaftliche Gründe.
Betroffen sind meist Mädchen mit österreichischer Staatsbürgerschaft, die bereits in zweiter oder dritter Generation hier leben oder Mädchen, die aus dem Heimatland einem in Österreich lebenden Mann „zugeteilt„ werden. Da sie dann meist ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse in einem fremden Land leben müssen, ist deren Abhängigkeit oft besonders bedrohlich. Sie sind meistens Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Auch die Rechte junger Männer sind verletzt, wenn sie von ihren Eltern ungewollt verheiratet werden.
Kontakt.
Orient Express, Schönngasse 15-17/Top 2, 1020 Wien, Tel: +43 (1) 728 97 25, office@orientexpress-wien.com, koordinationsstelle@orientexpress-wien.com, www.orientexpress-wien.com/koordinationsstelle .
Selda Yücel
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 7-8/2022
Druckversion des Artikels (PDF 366 kB)